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Die Bleichen Männer... Er kannte die Legende nicht, von der alle die ganze Zeit redeten, und er war froh darüber. Die Sache war für seinen Geschmack zu unheimlich. Er hoffte nur, dass Liam und die anderen heil zurückkamen.

Er ging Richtung Hauptsammler. Vom Tunnel zweigten einige schmale Seitengänge ab, von denen er nicht genau wusste, wohin sie führten. Er wollte sie sich genauer anschauen, für den Fall, dass sie einmal einen Fluchtweg brauchten.

Plötzlich war Jackon, als hätte er ein Blitzen in der Dunkelheit gesehen. Er schirmte die Kerze mit der Hand ab und schaute genauer hin.

Da! Im Hauptsammler bewegte sich Licht. Wahrscheinlich eine Gaslampe.

Vor Furcht zog sich sein Magen zusammen. Sollte er zurückgehen und die anderen warnen? Nein, er musste sich das aus der Nähe ansehen. Vielleicht handelte es sich nur um wagemutige Schlammtaucher.

Er blies die Kerze aus und hoffte, dass er es nicht verlernt hatte, sich zur Not auch im Dunkeln zurechtzufinden. Verstohlen huschte er den Gang hinauf, bis er einen Blick in die Zisterne werfen konnte.

Das Licht kam aus dem Zugang auf der anderen Seite des gewaltigen Raums und tastete wie ein Finger über Wände und Rippenbögen. Männer standen dort und stritten. Das Wasserrauschen war viel zu laut, als dass er sie hätte verstehen können. Ihren Gesten entnahm er, dass sie diskutierten, ob sie über den Sims gehen sollten oder nicht.

Schließlich setzte einer der Männer einen Fuß darauf und befahl den anderen mit einer herrischen Handbewegung, ihm zu folgen. Jackon hielt den Atem an, als er den Helm, die Hakenlanze und den Filzmantel des Mannes sah.

Ein Geheimpolizist! Corvas hatte sie gefunden.

Jackon wirbelte herum und hastete durch den Tunnel zurück, so schnell es die Finsternis zuließ. Wie war das nur möglich? Sie hatten doch alles dafür getan, dass niemand erfuhr, wo sie sich versteckten!

Er hatte sich den Weg eingeprägt und hätte eigentlich in der Lage sein müssen, sich zurechtzufinden, indem er seine Schritte zählte und sich an den Wänden entlangtastete. Aber er war aus der Übung. Mehrmals fiel er hin oder prallte schmerzhaft gegen einen Mauervorsprung, bis er endlich das Licht ihres Verstecks erblickte.

Ruac, der wie immer vor dem Eingang lag, hob den Kopf, als er an ihm vorbeirannte und nach drinnen stürmte.

»Nedjo! Godfrey! Wir müssen sofort verschwinden. Die Geheimpolizei! Sie hat uns gefunden!«

Die beiden Männer kamen aus den Nebenräumen. Nedjo hielt in der einen Hand einen öligen Lappen und in der anderen seinen Dolch. »Die Geheimpolizei? Das kann nicht sein.«

»Doch! Sie sind schon im Hauptsammler. Beeilt euch!« Der Manusch stieß einen Fluch aus und begann, seine Habseligkeiten zusammenzuraffen.

»Dafür haben wir keine Zeit!«, schrie Jackon. »Zur Treppe, schnell!«

Endlich erkannten die beiden den Ernst der Lage. Gemeinsam mit Ruac folgten sie ihm durch die Kammern zu den Stufen, die zum Wasserturm hinaufführten.

»Wir müssen die Tür aufbrechen. Das ist unsere einzige Chance.«

»Lass mich das machen«, sagte Nedjo und eilte die enge Treppe hinauf. Gerade als er bei der Tür ankam, erzitterte diese unter einem heftigen Stoß. Raue Stimmen drangen durch das Holz.

Entsetzen packte Jackon. Sie waren umzingelt.

»Was machen wir jetzt?«, schrie Nedjo. »Godfrey, du musst etwas unternehmen!«

Der Aethermann überlegte. Wie schaffte er es, selbst in dieser Situation so ruhig zu bleiben? »Durch die Kanäle«, entschied er. »Vielleicht finden wir einen anderen Fluchtweg.«

»Aber wir wissen doch nicht, wo die Gänge hinführen«, erwiderte Jackon und wünschte, er hätte die Umgebung schon gestern erkundet. »Wir könnten in einer Sackgasse landen.«

»Eine andere Möglichkeit haben wir nicht. Kommt.«

Die Geheimpolizisten hämmerten gegen die Tür. Nicht mehr lange, und sie würde nachgeben.

Jackon und seine Gefährten hetzten zum Ausgang des Verstecks. Als er nach draußen stürzte, sah er, dass Lampenschein durch den Tunnel irrlichterte. Sie kamen zu spät – die Soldaten waren noch höchstens vierzig oder fünfzig Schritt entfernt.

»Im Namen der Lordkanzlerin«, rief jemand, »ihr seid verhaftet!«

Jackon hätte schreien mögen. Sie hatten die Geheimpolizei übertölpelt, waren aus dem Ministerium der Wahrheit geflohen – und nun das.

»Wir müssen kämpfen«, sagte Nedjo und rang plötzlich um sein Gleichgewicht. Der Boden fing an zu wackeln. Aus der Ferne erklang ein Grollen.

»Was ist das?«, keuchte der Manusch und stützte sich mit einer Hand an der Wand ab. Von der Decke rieselte Staub. »Ein Erdbeben«, sagte Godfrey.

»Ein Erbeben?«, schrie Jackon. »Wie, bei allen Dämonen...« Die Frage blieb ihm im Hals stecken, als ein zweiter Erdstoß den Tunnel erschütterte. Er war weit heftiger als der erste. Jackon prallte gegen die Wand und fiel zu Boden. Er konnte förmlich spüren, wie die Felsen tief unter ihm von unfassbaren Kräften verschoben wurden.

So etwas hatte es noch nie gegeben. In all den Jahren nicht, in denen er in den Kanälen gelebt hatte.

Nedjo kam zu ihm, taumelnd wie auf dem Deck eines schlingernden Schiffs, und half ihm auf. Er rief etwas, doch ein ohrenbetäubendes Donnern übertönte seine Worte.

Steine regneten von der Tunneldecke und fielen platschend in den Kanal, keine zehn Schritte von ihnen entfernt, eine ganze Lawine aus geborstenem Mauerwerk, Erde und Geröll. Die Soldaten schrien, das Licht ihrer Lampe erlosch.

»Wir müssen sofort hier raus!«, brüllte Nedjo. Er packte Jackon am Arm und bahnte sich hustend einen Weg durch den Staub.

»Und die Soldaten?«

»Zum Teufel mit ihnen! Wenn wir in den Tunneln bleiben, ist das unser Tod.«

Noch ein Beben. Sie kämpften sich die Stufen zum Eingang des Verstecks hinauf. Drinnen lichtete sich der Staub, und sie erblickten Godfrey und Ruac, die sich rechtzeitig in den Eingangsraum zurückgezogen hatten. Auf den ersten Blick sah es so aus, als hätte der Gewölbekeller den Erdstößen widerstanden. Doch dann entdeckte Jackon einen Riss, der quer über die Decke verlief. Lange würde das Mauerwerk nicht mehr halten.

»Zur Treppe«, sagte Nedjo und zog seinen Dolch. »Kämpfen wir uns den Weg frei.«

Jackon ergriff das erstbeste Messer, das er finden konnte, und rannte seinen Gefährten nach. Das Beben war schwächer geworden. Nach wie vor ließen Erdstöße den Boden erzittern, jedoch nicht mehr so stark, dass er das Gleichgewicht verlor.

Entgegen Jackons Hoffnung waren die Geheimpolizisten nicht geflohen, als das Erdbeben angefangen hatte. Sie hatten die Tür aufgebrochen und kamen mit gezückten Hakenlanzen und Pistolen die Treppe herunter. Nedjo wollte sich ihnen entgegenwerfen, wurde jedoch zur Seite gestoßen, als Ruac auf die Männer zuschoss.

Die Soldaten begannen vor Entsetzen zu schreien. Einige feuerten wild drauflos, jedoch ohne den Lindwurm zu verletzen, die anderen suchten ihr Heil in der Flucht. Augenblicklich herrschte auf der engen Treppe das Chaos. Männer stolperten die Stufen hinauf und fielen dabei übereinander.

Ruac schnappte nach dem vordersten Soldaten, erwischte ihn am Arm und schleuderte ihn mit einer Drehung seines Kopfes so heftig herum, dass er gegen die Wand prallte und bewusstlos zu Boden fiel. Ruac wollte sich den nächsten vornehmen, als Jackon rief: »Hör auf Sie fliehen doch schon.«

Der Lindwurm hörte nicht auf ihn. Er spreizte die Flügel, machte einen Satz durch die Luft und landete auf dem unteren Drittel der Treppe, was die Soldaten in ihrem Entschluss bestärkte, so schnell wie möglich das Weite zu suchen. Drängelnd stürmten sie zur Tür. Ruac legte die Flügel an und verfolgte sie nach draußen.

Jackon wankte, als abermals der Boden bebte. In den Mauern knirschte es, und im Nachbarraum fiel ein Stein von der Decke. Er nahm die Beine in die Hand, rannte die Stufen hinauf und gelangte ins Innere des Wasserturms. Das Bauwerk war vollkommen leer. Licht fiel durch einige Fensterschlitze hoch üher ihm. Rostige Halterungen, die aus den Wänden ragten, deuteten darauf hin, dass es hier einst Pumpen, riesige Wasserbehälter und Eisenstiegen gegeben hatte.