Sie gingen am Flussufer entlang. Die Chimärenbrücke hatte die Katastrophe wundersamerweise ohne einen Kratzer überstanden. Sie war voller Menschen – Flüchtlinge aus dem Kessel, wo das Beben am schlimmsten gewütet hatte. Die Gefährten kämpften sich durch die Menge. Auf der anderen Seite des Flusses bot sich ihnen ein Bild vollkommener Zerstörung. Der Magistratspalast stand noch, aber die Alte Festung auf dem Hügel war zum größten Teil eingestürzt. Dasselbe galt für die meisten Häuser und Anwesen an der Kupferstraße.
Von der Alten Pumpstation aus, der Herzkammer, versuchten sie, in die Kanäle zu gelangen, doch auch hier waren viele der Tunnel eingestürzt oder so schwer beschädigt, dass es zu gefährlich war, sie zu betreten. Als sie gerade umkehren wollten, verschwand Lucien plötzlich in einem Nebengang. »Kommt her«, rief er.
Liam folgte ihm – und traute seinen Augen nicht. Der Tunnel brach nach wenigen Schritten ab und öffnete sich in einen Abgrund. Der Alb stand reglos da, eine Hand an der Wand, das Haar wehte im Luftzug.
Langsam trat Liam neben ihn. Vor ihnen klaffte eine gewaltige Erdspalte. Abgerissene Rohre ragten wie Wurzelwerk aus den Felswänden, hier und da waren die Überreste von Kellern und Katakomben zu sehen. Aus Kanälen, die im Nichts endeten, stürzte Wasser. Zu seiner Rechten erblickte Liam einen tosenden Wasserfalclass="underline" der Rodis, der in den Abgrund strömte. Und auf der anderen Seite, wenige Schritt über ihnen: die Ruinen von Manufakturen und Fabriken. Manche Gebäude hingen, von Strahlträgern zusammengehalten, teilweise in der Luft; gelegentlich brachen Teile ab und fielen in die Tiefe. Überall stiegen Rauch und Aetherdampf von zerschmetterten Maschinen auf und vermischten sich mit den Staubschwaden, die über der Stadt lagen.
»Meine Werkstatt«, ächzte Quindal. Liam folgte dem Blick des Erfinders zum Rand der Spalte und entdeckte das vertraute Gebäude – oder was davon übrig war. Nur noch ein Nebengebäude stand. Die beiden Hallen hatte die Spalte verschluckt.
»Da«, sagte Lucien und deutete auf einen Punkt in der Tiefe.
Liam machte einen Schritt nach vorne und fühlte namenloses Entsetzen in sich aufsteigen. Aus der Dunkelheit am Grund der Spalte, viele hundert Fuß unter ihm, krochen Wesen herauf. Flink kletterten sie an den zerklüfteten Felswänden empor, große und kleine, menschenähnliche und ganz und gar bizarre mit viel zu vielen Gliedmaßen und deformierten Leibern.
»Dämonen«, flüsterte er.
»Ja. Die Mauern des Pandæmoniums sind aufgebrochen. Sie dringen in unsere Welt ein.«
Der Anblick übte eine morbide Faszination auf Liam aus. Er hatte gedacht, er wäre dem Grauen des Pandæmoniums für immer entronnen, doch nun holte es ihn unversehens ein. Nur mit Mühe konnte er sich abwenden, als Lucien, Vivana und Quindal zurückgingen.
Die Erdspalte zwang sie zu einem Umweg. Von der Herzkammer aus folgten sie der Kupferstraße nach Norden, wandten sich auf der Höhe der alten Gießerei nach Osten und durchquerten den Kessel. Es war eine beschwerliche Wanderung. Viele Straßen waren wegen der Trümmer kaum passierbar. Außerdem wüteten in den Ruinen Feuersbrünste, und überall wimmelte es von verzweifelten und verletzten Menschen, die sie um Hilfe anflehten. Geflügelte Rabendämonen, riesige Verschlinger, kreisten über der Glocke aus Rauch und Staub und machten Jagd auf die Flüchtlinge. Es war eine apokalyptische Szenerie, die sich Liam darbot – und dabei war das erst der Anfang. Bald schon würden ganze Legionen von Dämonen aus dem Abgrund heraufkriechen, und was Bradost dann bevorstand, wagte er sich nicht vorzustellen.
Stunden nach ihrer Flucht aus dem Waldstück sahen sie den Wasserturm über den Dächern aufragen. Voller Erleichterung stellte Liam fest, dass er weitgehend unbeschädigt war.
Vielleicht hatte das Erdbeben ihr Versteck verschont, sodass Jackon, Godfrey, Nedjo und Ruac mit einem Schrecken davongekommen waren.
Da auch die Grambeuge stark zerstört war, versuchten sie gar nicht erst, durch die Kanäle zu ihrem Unterschlupf zu gelangen. Sie eilten die Straße entlang und sahen schon von Weitem, dass die Tür des Wasserturms offen stand.
»Sieht so aus, als wären sie vor dem Erdbeben geflohen«, bemerkte Liam.
»Oder Corvas' Leute haben sie überfallen«, erwiderte Lucien düster.
»Du meinst, sie haben das Versteck gefunden?«
»Überraschen würde mich das nicht. Uns haben sie ja auch aufgespürt.«
Sie betraten den Wasserturm und stiegen in den Keller hinab. Es war dunkel. Quindal holte die Lampe aus seinem Rucksack und zündete sie an. Auf der Treppe fand Liam Blutspuren, einen Säbel und eine geladene Pistole von der Art, wie die Geheimpolizei sie benutzte. Nun gab es keinen Zweifel mehr, was hier geschehen war: Corvas' Männer waren in das Versteck eingedrungen und hatten ihre Gefährten festgenommen.
Neue Verzweiflung überkam Liam. Nahmen denn die Schrecken nie ein Ende?
Plötzlich bemerkte er am Rand des Lichtscheins einen Körper. Er sprang von der Treppe und rannte in eine Ecke der Kammer, wo ein Soldat der Geheimpolizei lag. An seinem Arm und der Schulter klafften schwere Verletzungen. Er war tot. Verblutet.
»Das war Ruac«, sagte Vivana, als sie die Wunden des Mannes untersuchte. »Hier, siehst du? Bissverletzungen.«
»Wie lange ist er schon tot?«
»Er ist noch warm. Ein paar Minuten vielleicht.«
Liam runzelte die Stirn. Das Blut auf der Treppe war bereits getrocknet. Es musste also schon eine Weile her sein, dass die Geheimpolizisten das Versteck verlassen hatten. »Aber wenn er eben noch gelebt hat, wieso haben seine Kameraden ihn zurückgelassen?«
»Vielleicht sind sie vor dem Erdbeben geflohen«, sagte Lucien. Er durchsuchte die anderen Räume und kam zurück. »Der Zugangstunnel ist eingestürzt, aber davon abgesehen ist der Keller intakt.«
»Irgendeine Spur von den anderen?«, erkundigte sich Quindal.
»Leider nicht.«
»Was machen wir jetzt?«, fragte Liam niedergeschlagen.
»Zuerst einmal sollten wir zusehen, dass wir von hier verschwinden«, antwortete Lucien. »Wenn ich Corvas wäre, würde ich hier nach uns suchen.«
Just in diesem Moment hörte Liam von der Tür zum Wasserturm ein Geräusch und fuhr herum. Ein ihm wohl bekannter Lindwurm streckte seine Schnauze herein und schoss die Stufen hinab.
»Ruac!«, rief Vivana und drückte das Geschöpf an sich. Ruacs Flanken verströmten behagliche Wärme.
Kurz darauf tauchten auch Jackon, Nedjo und Godfrey auf. »Tessarion sei Dank, ihr lebt!«, schrie der Rothaarige, während er die Treppe hinunterstürmte. »Wir haben schon gedacht, die Bleichen Männer hätten euch erwischt oder ihr wärt verschüttet worden. Wo wart ihr denn so lange?« Er umarmte Liam.
Anschließend erzählte Liam, was geschehen war: von ihrer Begegnung mit den Bleichen Männern, ihrer Flucht vor den Leibwächtern, dem Erdbeben. »Im Kessel ist die Erde aufgerissen, und wir mussten einen Riesenumweg machen«, schloss er. »Sonst wären wir schon viel früher hier gewesen.«
»Habt ihr den Riss gesehen?«, wandte sich Lucien an Nedjo und Godfrey.
Der Manusch nickte düster. »Und wir haben auch gesehen, was da herauskriecht.«
»Wie konntet ihr der Geheimpolizei entkommen?«, fragte Liam.
»Ruac hat sie in die Flucht geschlagen, als sie hier eingedrungen sind«, berichtete Jackon. »Ich glaube, er hat sie durch das ganze Viertel gejagt. Jedenfalls sind sie nicht wieder aufgetaucht.«