»Ich habe mir nur den Magen verdorben«, murmelte Jackon. »Es geht schon wieder.«
»Corvas hat mir gerade erzählt, dass er die Verräter festgenommen hat. Heute ist ein großer Tag für Bradost. Und wessen Verdienst ist das? Allein der deine. Ich bin stolz auf dich.«
Früher hatte ihr Lächeln ihn stets aufgemuntert. Jetzt bewirkte es nur, dass er sich noch elender fühlte.
Lady Sarka hob eine Augenbraue. »Es ist wegen Liam, nicht wahr? Hast du seinetwegen etwa ein schlechtes Gewissen?«
Er zuckte mit den Schultern.
»Dazu besteht wirklich kein Grund. Er wollte mir schaden. Er hat bekommen, was er verdient.«
»Er war mein Freund.«
»Du brauchst keine Freunde. Du hast uns.«
Jackon blickte von ihr zu Corvas, der mit seiner bleichen Haut und dem knochigen Schädel im Zwielicht wie eine lebende Leiche wirkte. Ein Schauder lief ihm über den Rücken.
»Du hast das Richtige getan«, erklärte Lady Sarka sanft. »Jetzt hör auf, so ein Gesicht zu machen. Heute ist für uns alle ein Tag der Freude.«
Da war er, der Satz, den er unbedingt hatte hören wollen. Doch er beruhigte ihn nicht, im Gegenteil, er klang wie grausamer Hohn in seinen Ohren. Am liebsten wäre er davongelaufen und hätte sich irgendwo verkrochen, für immer.
In diesem Moment zogen sich in einem Winkel der Höhle die Schatten zusammen und verdichteten sich zu einem nachtschwarzen Kern. Ein Schattentor. Umbra trat heraus, gefolgt von Silas Torne und zwei Spiegelmännern. Die Maskierten trugen eine Gestalt. Obwohl ihr der Kopf auf die Brust gesunken war, erkannte Jackon auf den ersten Blick, um wen es sich handelte.
»Lucien«, sagte er überrascht und lief Umbra entgegen.
Die Spiegelmänner hielten den Alb an den Armen fest; seine Füße schleiften über den Boden. Ohnmächtig war er nicht – seine Augen waren offen –, aber er schien irgendwie gelähmt zu sein.
»Wieso hast du ihn nicht zum Ministerium gebracht, so wie die anderen?«, fragte Jackon.
»Weil er mir gehört«, antwortete Silas Torne an Umbras Stelle.
Die Leibwächterin bedachte Torne mit einem Blick voller Abscheu. »Er gehört dir, wenn ich ihn verhört habe«, erinnerte sie ihn. »So lautet unsere Abmachung.«
»Gewiss«, erwiderte der entstellte Alchymist mit einem boshaften Lächeln.
Umbra befahl den Spiegelmännern, Lucien nach oben zu bringen. Torne folgte ihnen und rieb sich dabei die Hände.
Jackon wagte sich nicht vorzustellen, was für ein Schicksal Lucien in Tornes Hexenküche erwartete. Er hat mich vor Aziel gewarnt. Ohne ihn wäre ich jetzt tot. Hastig schob er auch diesen Gedanken beiseite.
Umbra öffnete eine lederne Umhängetasche und übergab Lady Sarka einen alten Wälzer. »Das Gelbe Buch von Yaro D'ar. Wir haben es bei dem Jungen gefunden.«
Lady Sarka legte den Folianten behutsam auf den Labortisch und strich mit den Fingerkuppen über den Ledereinband. »Gute Arbeit. Ich bin zufrieden mit euch.«
»Leider hat die Sache einen kleinen Schönheitsfehler«, sagte Umbra mit gerunzelter Stirn. »Godfrey ist uns entwischt. Außerdem waren Quindals Tochter und einer der Manusch nicht in dem Versteck. Dummerweise ist uns das erst aufgefallen, als wir die Gefangenen ins Ministerium gebracht hatten. Wir haben sofort Leute zu dem Unterschlupf geschickt. Falls sie dort auftauchen, nehmen wir sie fest.«
»Gut.« Lady Sarka wandte sich an Corvas. »Fang an, die Gefangenen zu verhören. Ich will alles wissen. Was ihre Pläne gewesen sind und vor allem, was sie mit dem Buch vorhatten. Und frag Quindal nach seiner Tochter. Er wird wissen, wo sie sich versteckt.«
Corvas deutete eine Verneigung an. Dann verwandelte er sich in eine Krähe, flog los und verschwand im blauen Zwielicht.
Eine Frage brannte Jackon auf den Lippen. »Wenn Corvas fertig ist«, begann er zögernd, »was passiert dann mit den Gefangenen?«
»Was dann mit Liam passiert, willst du doch wissen, oder?«, erwiderte Lady Sarka.
»Ihr habt versprochen, dass ihm nichts angetan wird. Dass er nur ins Gefängnis kommt.«
»So, habe ich das?«
Ihr Ton gefiel ihm ganz und gar nicht. »Ihr habt mir Euer Wort gegeben!«
»Sei doch kein Narr. Sie sind Verräter. Dafür gibt es nur eine Strafe.«
»Welche?«
»Herrgott, Jackon. Frag nicht so dumm.«
»Das könnt Ihr nicht tun«, ächzte er.
»Ich kann nicht nur, ich muss. Die Sicherheit Bradosts hängt davon ab.«
Plötzlich war Jackon, als gäbe der Boden unter ihm nach, und er schien zu fallen, immer tiefer, immer schneller. »Ihr habt das von Anfang an gewusst, nicht wahr? Das Versprechen – das war nur eine Lüge, damit ich mache, was Ihr sagt. Wahrscheinlich habt Ihr gedacht: Der kleine, dumme Jackon merkt das sowieso nicht.«
»Jackon!«, sagte Umbra scharf.
»Wenn man über eine Stadt wie Bradost herrscht, muss man gelegentlich unangenehme Entscheidungen treffen«, entgegnete Lady Sarka ruhig. »Versteh das bitte. Jetzt lass uns allein. Umbra und ich müssen einiges besprechen.«
»Nein. Ich gehe erst, wenn ich weiß, dass Liam und seinen Freunden nichts geschieht. Ich will, dass Ihr es schwört, und diesmal ist Umbra mein Zeuge.«
Lady Sarka gab der Leibwächterin mit einem Kopfnicken ein Zeichen, woraufhin Umbra ihn am Arm packte.
»Lass mich los!«
»Jetzt reiß dich zusammen! Du benimmst dich wie ein kleines Kind.« Umbra öffnete ein Schattentor.
»Lügnerin!«, schrie Jackon. »Ihr seid eine Lügnerin, habt Ihr gehört?«
Im nächsten Moment umfingen ihn die Schatten. Jackon versuchte, sich loszureißen und zum Eingang des Tunnels zu laufen, doch Umbra hielt ihn mit eisernem Griff fest, bis er sich wenige Sekunden später in seinem Zimmer wiederfand.
»Ich schlage vor, du bleibst hier, bis du zur Besinnung gekommen bist«, knurrte die Leibwächterin, bevor sie wieder verschwand.
Jackon kauerte auf dem Boden und schlug mit der Faust auf das Parkett, wieder und wieder. Er merkte nicht, dass ihm dabei Tränen über die Wangen liefen.
3
Silas Tornes Meisterstück
Nicht einmal die Augenlider konnte Lucien noch bewegen. Ein Großteil seiner Muskeln hatte sich verhärtet, als wäre das Blut in seinen Adern zu einer festen Masse geronnen. Nur ein paar Körperteile – die Finger, die Füße, sein Gesicht – waren davon nicht betroffen; dafür waren sie gelähmt und vollkommen taub. Seine Nervenbahnen dagegen arbeiteten unglücklicherweise einwandfrei. Immer neue Wellen brennender Pein sandten sie durch seine Glieder und verwandelten seinen Körper in eine Hölle aus Schmerz.
Die Spiegelmänner hatten ihn zu Silas Tornes Labor gebracht und auf einen steinernen Tisch gelegt. Der Alchymist hielt sich seit ein paar Minuten im hinteren Teil des Raumes auf und tat... irgendetwas. Was genau, wusste Lucien nicht – da er seinen Kopf nicht bewegen konnte, sah er lediglich die rußverschmierte Gewölbedecke. Doch was er hörte, klang nicht gerade beruhigend. Geräte klickten und surrten metallisch, und Torne summte gut gelaunt vor sich hin.
Lucien versuchte, seine Muskeln anzuspannen, seine Hand zur Faust zu ballen, irgendwie die Kontrolle über seinen Körper zurückzuerlangen – vergeblich. Er konnte nicht einmal um Hilfe rufen, geschweige denn, sich unauffällig machen oder in die Traumlanden entkommen. Das Gift legte sich wie Nebel über seinen Verstand, machte seine Gedanken schwerfällig und blockierte seine Albenfähigkeiten. Diesmal hatte Torne wirklich an alles gedacht.
Irgendwann erschien das entstellte Gesicht des Alchymisten über ihm. Seine mumienhaft vertrockneten Lippen formten ein Lächeln.
»Lucien, alter Freund, du ahnst gar nicht, wie glücklich du mich machst. Weißt du, wie oft ich mir diesen Moment vorgestellt habe? Hundertmal. Tausendmal. Ach, noch viel öfter. Nacht für Nacht habe ich wachgelegen und mir ausgemalt, wie du auf meinem Tisch liegst, hilflos und voller Angst. Und jetzt ist mein Wunsch endlich in Erfüllung gegangen.«