Eine halbe Stunde später tauchte vor ihnen die Steilküste am Westufer auf. Etwa hundert Schritt davor ragte eine Klippe wie ein riesiger Reißzahn aus dem Wasser. Sie umfuhren den Felsen und erblickten Vorod Khorojs Palast.
Lampen in verschiedenen Farben tauchten das Gebäude in unwirkliches Licht. Jackon stand vor Staunen der Mund offen. Auch Liam empfand Ehrfurcht beim Anblick der schwimmenden Insel, obwohl er sie schon einmal gesehen hatte. Die gesamte Konstruktion war ein technisches Meisterstück, mehr noch: ein Kunstwerk.
Er blickte zur Landeplattform auf dem Dach und stellte bestürzt fest, dass das Luftschiff nicht da war. Hatte Vorod Khoroj Bradost aus Angst vor den Dämonen verlassen?
Quindal und Nedjo ruderten zum Anlegesteg, wo sie das Boot festmachten. Die Gefährten halfen sich gegenseitig beim Aussteigen und gingen die Treppe zum Haus hinauf.
Bei ihrem letzten Besuch hatten sie hier zwei Wächter in Empfang genommen. Jetzt war von den beiden Bewaffneten nichts zu sehen.
»Wo ist euer Freund?«, erkundigte sich Lucien.
»Weg«, sagte Quindal mürrisch. »Wahrscheinlich schon über alle Berge. Ich kann's ihm nicht verdenken.«
»Hätte er dann nicht die Lampen gelöscht?«, fragte Liam.
»Vermutlich ist er überstürzt geflohen. Dann vergisst man schon mal, das Licht zu löschen.«
»Paps, sieh mal da«, rief Vivana.
Sie deutete auf zwei blinkende Scheinwerfer am Nachthimmel, die sich ihnen näherten.
»Das ist er!«, sagte Liam erleichtert.
Sie warteten, bis Khorojs Luftschiff auf der Plattform gelandet war. Es war so klein und wendig, dass es dafür keine Bodenmannschaft brauchte. Khoroj ließ etwas Aetherdampf aus den Traggaszellen ab und setzte sanft auf. Kurz darauf stieg der Südländer aus der Gondel, gefolgt von seinen Leibwächtern, die dieselben sonderbaren Rüstungen und muschelartigen Helme wie beim letzten Mal trugen. Während die beiden Männer das Luftschiff vertäuten, kam Khoroj die Treppe herunter.
Liam sah auf den ersten Blick, dass er zutiefst erschüttert war. Überrascht blickte der Südländer seine Besucher an. »Was machst du denn hier, alter Freund?«, wandte er sich an Quindal.
»Wir brauchen schon wieder deine Hilfe«, antwortete der Erfinder. »Ich hoffe, wir kommen nicht ungelegen.«
Khoroj legte eine Hand auf das Treppengeländer. Er konnte nicht verbergen, dass er zitterte. »Weißt du, was in der Stadt geschehen ist?«
»Deswegen sind wir hier.«
»Ein Abgrund, mitten im Kessel. Und diese Kreaturen... Bei allen Sternen des Himmels, was sind das für Wesen?«
»Dämonen.«
»Dämonen«, wiederholte Khoroj mit erstickter Stimme. »Wie ist so etwas möglich?«
»Ich glaube, das erklärt dir besser Lucien.«
Der Südländer nickte geistesabwesend. »Gehen wir hinein. Ich muss zuerst etwas trinken. Etwas Starkes.«
»Wieso halten wir an?«, fragte Umbra.
Corvas warf einen Blick aus dem Kutschenfenster. »Trümmer versperren den Weg. Das sieht ernst aus. Wir gehen besser zu Fuß weiter.«
Sie stiegen aus. Corvas holte die Spiegelmänner aus der zweiten Kutsche und befahl den Fahrern, hier zu warten. Dann kletterten er und Umbra über die Trümmer des eingestürzten Hauses und gingen mit den sechs Maskierten im Schlepptau die verwüstete Straße entlang.
Umbra fluchte leise. Das hatte man davon, wenn man mit primitiven Fortbewegungsmitteln reiste. Mit einem Schattentor wären sie in wenigen Minuten beim Wasserturm gewesen. Leider war es inzwischen so dunkel, dass sie ihre Kräfte kaum noch einsetzen konnte. Noch eine Viertelstunde, und sie würde schwach sein. So schwach wie ein gewöhnlicher Mensch.
Ein anstrengender Nachmittag lag hinter ihr. Es war nicht damit getan gewesen, Amander bei den Kasernen am Stadtrand abzusetzen und den Kommandanten der Regimenter Lady Sarkas Befehle zu übermitteln. Die Offiziere hatten nur vage Informationen über das Erdbeben gehabt und infolgedessen mit Unglauben und Entsetzen reagiert, als Umbra vom Auftauchen der Dämonen berichtete. Corvas und sie mussten zahllose Fragen über sich ergehen lassen. All das hatte Zeit gekostet. Zu viel Zeit. Und darum musste Umbra jetzt ohne ihre Kräfte auf Verschwörerjagd gehen.
Die Straße führte von Norden in die Grambeuge und war nicht weit vom Kessel entfernt. Ein paar Häuserblocks weiter brannte eine Fabrik. Im Flammenschein bewegte sich etwas, ein riesenhafter Rabe, der über den Ruinen der Nachbargebäude kreiste. Er stieß herab und flog mit einer zappelnden Gestalt im Schnabel zum Nachthimmel hinauf. Trotz der Entfernung spürte Umbra die Bosheit, die das Geschöpf verströmte. Plötzlich überkam sie verzehrende Wut. Sie zog ihre Pistole und kniff die Augen zusammen.
Zu weit weg. Verdammt.
»Wir sind nicht hier, um Dämonen zu jagen«, sagte Corvas. »Konzentrier dich auf unseren Auftrag.«
»Konzentrier dich auf unseren Auftrag«, äffte Umbra ihn leise nach, bevor sie ihre Pistole ins Gürtelholster rammte. »Dich lässt das alles vielleicht kalt, aber es gibt Leute, denen liegt etwas an unserer Stadt. Verdammter Würmerfresser!«
Corvas blieb stehen. »Hast du etwas gesagt?«
Sie ignorierte ihn und stapfte weiter. Umbra hätte es niemals zugegeben, aber er hatte richtig gehandelt, sie an ihre Pflicht zu erinnern. Die Ereignisse der vergangenen Stunden hatten sie so tief greifend erschüttert, dass sie kaum noch klar denken konnte. Wenn sie sich nicht schleunigst zusammenriss, brachte sie sich noch in Gefahr.
Dämonen in Bradost! Was für ein Albtraum.
Kurz darauf erreichten sie den Platz mit dem Wasserturm, der wie durch ein Wunder noch stand.
»Wo sind deine Leute?«, fragte Umbra.
»Sie haben den Befehl, drinnen zu warten.«
Sie ließen die Spiegelmänner vorausgehen und folgten ihnen mit gezückten Pistolen. Eine Treppe führte in einen stockfinsteren Keller hinab. Umbra warf Corvas einen fragenden Blick zu, woraufhin er zwei Maskierten befahl, ihre Lampen zu entzünden.
Das Licht kroch über Stufen voller Blut. Weiter unten lagen ein Säbel und eine Pistole.
Kampfspuren.
Im nächsten Moment entdeckte Umbra neben der Treppe einen Körper. Sie drängte sich an den Spiegelmännern vorbei und untersuchte ihn. Ein Geheimpolizist. Er war tot. »Die Sache ist wohl nicht so gelaufen, wie du dir gedacht hast.«
»Suchen wir alles ab«, entgegnete Corvas mit unbewegter Miene.
Der Keller war vollkommen leer. Umbra forderte einen Spiegelmann auf, ihr seine Lampe zu geben, und sah sich den Tunnel an, der den Wasserturm mit den Kanälen verband. Er war eingestürzt. Aus dem Schuttberg sickerte das Wasser des Kanals, das sich dahinter staute.
Umbra räumte zwei Steine weg und legte einen Arm frei, der aus den Trümmern ragte. Noch ein Geheimpolizist.
Sie konnte nur spekulieren, was sich hier abgespielt hatte. Lucien, Quindal, Quindals Tochter und der junge Satander waren in Scotia, als das Erdbeben anfing. Godfrey, der Manuscb und Jackon haben hier auf sie gewartet. Corvas schickt Männer zum Wasserturm. Sie vermuten, dass der Turm zwei Zugänge hat, also teilen sie sich auf. Eine Gruppe geht durch die Kanäle und wird verschüttet. Die andere dringt durch den Turm ein. Es gibt einen Kampf – und dann? Wie schaffen es zwei Männer und ein Junge, einen ganzen Trupp von Geheimpolizisten zu überwältigen?
Umbra dachte an den Toten, der im Keller lag. Seine Verletzungen stammten nicht von einer Waffe. Sein Arm war regelrecht zerfleischt worden.