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»Und Godfrey?«, rief Vivanas Vater aufgebracht. »Wir können ihn doch nicht einfach im Stich lassen!«

Ein Leibwächter des Südländers schob ihn von der Luke weg und schloss die Klappe. Das Luftschiff hob ab.

Fassungslos starrte Vivana aus dem Fenster. Ein Spiegelmann packte Godfrey. Er hätte noch genug Zeit gehabt, die Luke zu erreichen. Stattdessen hatte er sich ihren Feinden ausgeliefert. Freiwillig, ohne Not.

Das Luftschiff stieg weiter auf und befand sich jetzt über dem Wasser, drei Schritt von der Plattform entfernt und fünf darüber. Die beiden Spiegelmänner, die zur Gondel gelaufen waren, hatten keine Chance mehr, es zu erreichen. Sie gaben auf und gingen zu dem dritten, der Godfrey festhielt. Corvas stand tropfnass am Fuß der Treppe und rief etwas, woraufhin der Maskierte Godfrey losließ. Dieser strich seinen Anzug glatt, stieg die Stufen hinab und begann, mit dem Bleichen zu reden.

Auf einen Schlag war Vivana alles klar.

»Bei Tessarions Gnade, er hat uns verraten«, flüsterte sie.

»Was?«, fragte Liam entgeistert.

Die Worte schienen in ihrer Kehle festzustecken. »Wieso hat Corvas gewusst, wo der Spiegelsaal der Bleichen Männer ist? Oder dass wir uns im Wasserturm verstecken? Oder dass wir Vorod um Hilfe bitten würden? Weil es ihm jemand gesagt hat. Aber nicht die Krähen. Es war Godfrey.«

»Das kann nicht sein«, mischte sich ihr Vater ein. »Wann hätte er das tun sollen? Er war die ganze Zeit bei uns.«

»War er nicht. Heute Morgen ist er verschwunden, wisst ihr noch? Da hat er sich mit Corvas getroffen und ihm alles erzählt. Wahrscheinlich hat er gestern Abend das erste Mal Kontakt mit Corvas aufgenommen, nachdem er Madalins Wagen bei Bajo abgeholt hat. Das würde erklären, warum er so lange fortgeblieben ist.« Vivana dachte an all die Kleinigkeiten, über die sie sich in den letzten Tagen gewundert hatten. Godfreys unvermittelter Zornesausbruch. Seine Verschlossenheit. Sein Verrat kam nicht aus heiterem Himmel. Etwas war mit ihm geschehen, aber sie hatten den vielen Zeichen nicht genug Beachtung geschenkt.

»Jetzt weiß ich auch, warum er als Letzter den Wasserturm verlassen hat, als wir losgegangen sind«, sagte Liam. »Wahrscheinlich hat er Corvas eine Nachricht hinterlassen.«

»Godfrey«, murmelte Vivanas Vater. »Warum tust du uns so etwas an?«

»Hinsetzen und festhalten«, befahl Khoroj. »Die Sache ist noch nicht überstanden.«

Die Gefährten nahmen auf den Bänken im hinteren Teil des Steuerraums Platz und klammerten sich irgendwo fest. Vivana ließ sich in den Sessel neben Khoroj fallen. Die Motoren heulten auf, als der Südländer auf vollen Schub beschleunigte. Das Luftschiff fuhr auf die Klippe zu, die plötzlich aus der Schwärze auftauchte, beschrieb eine steile Kurve und schoss in den Nachthimmel hinauf. Dabei wurden sie so heftig durchgeschüttelt, dass Vivana beinahe aus ihrem Sessel geschleudert wurde. Im letzten Moment konnte sie sich an den Armlehnen festhalten.

Plötzlich übertönte schrilles Kreischen den Motorenlärm. Eine schwarze Wolke hüllte das Luftschiff ein. Flügel schlugen gegen die Fenster, Schnäbel und Krallen kratzten über das Glas.

»Bei Assamiras Blitzen, was ist das?«, keuchte Khoroj.

»Corvas hat seine Krähen losgelassen!«, stieß Vivana hervor.

»Er will, dass wir abstürzen«, rief Jackon von hinten. »Die Krähen picken Löcher in die Hülle. Sie können das. Ich hab es schon mal gesehen!«

Khorojs Gesicht nahm einen grimmigen Ausdruck an. »Keine Angst, das Schiff ist gepanzert. Es widersteht sogar Gewehrkugeln.« Er zog einen Hebel durch. Die jähe Beschleunigung fuhr Vivana wie ein Faustschlag in den Magen und presste sie in die Sitzpolsterung. Das Luftschiff schoss Richtung Meer und schüttelte den Krähenschwarm ab.

Umbra starrte dem Luftschiff nach, das in der Nacht verschwand, gefolgt von einem Schweif aus Aetherdampf. Jackons Worte wirbelten durch ihren Kopf, wieder und wieder, bis sie zu einem einzigen Hohngeschrei verschmolzen.

Lady Sarka hat dich getäuscht - sie steckt hinter dem Mord an deiner Familie. Sie hat dir das angetan! Ich habe alles gesehen, in einer Erinnerung von Mama Ogda.

Das war lachhaft, unmöglich, vollkommen absurd. Jackon hatte das gesagt, um sie aus der Fassung zu bringen, damit er und seine Freunde fliehen konnten. Er kannte sie. Er wusste, wo er sie treffen konnte.

Nein, dachte Umbra, und eine schreckliche Gewissheit erfüllte sie. Er hat nicht gelogen. Der Junge kann doch gar nicht lügen!

Corvas packte sie am Arm, sagte etwas. Verständnislos blickte sie ihn an. Warum ist er so nass?

Sein Griff wurde fester, fast schmerzhaft. »Umbra!«

Der scharfe Befehl durchdrang ihre Benommenheit. »Lass mich los, verdammt«, fuhr sie ihn an und schüttelte seine Hand ab.

»Was war das für ein Wesen? Ein Lindwurm? Wieso hat es ihnen geholfen?«

»Ich weiß es nicht.«

»Komm«, sagte Corvas. »Wir müssen sofort zum Luftschiffhafen.« Er rief die Spiegelmänner zu sich und eilte zu ihrem Boot.

Langsam ging Umbra ihm nach. Zu jedem Schritt musste sie sich zwingen. Ihr Körper war schwer wie Blei. Bevor sie Corvas' Hand ergriff und über die Reling kletterte, blickte sie noch einmal zum Himmel auf, zu den blinkenden Scheinwerfern in der Ferne.

Lady Sarka hat dich getäuscht... Sie hat dir das angetan.

24

Phönix und Sandsturm

Nachdem Khoroj das Tempo des Luftschiffs etwas gedrosselt hatte und man sich wieder gefahrlos im Steuerraum bewegen konnte, sah Vivana sich die Gondel zum ersten Mal genauer an. Das Innere ähnelte dem Salon in seinem Haus. Überall lackiertes Holz, kostbare Teppiche und Messing, das im sanften Licht der Alabasterlampen funkelte. Sessel, Kisten und alle anderen Einrichtungsgegenstände waren an den Boden geschraubt oder festgebunden, für den Fall, dass das Luftschiff in einen Sturm geriet. Ein schmaler Gang führte zum Maschinen- und Navigationsraum, wo sich die beiden Leibwächter aufhielten, und weiter zu den vier Passagierkabinen, der Speisekammer und dem Badezimmer. Im hinteren Teil der Gondel befanden sich ein Frachtraum und ein kleiner Aufenthaltsbereich. Für neun Personen war das Luftschiff eigentlich zu klein, aber wenn sie etwas zusammenrückten, würde es gehen.

»Die Jaipin ist ein Schmuckstück, nicht wahr?«, sagte Khoroj lächelnd. »Sie ist eine Spezialanfertigung; ich habe sie vor zwei Jahren bauen lassen, nach meinen eigenen Entwürfen. In ganz Bradost gibt es kein leichteres und schnelleres Luftschiff. Wie du gesehen hast, braucht sie zum Landen und Starten nicht einmal eine Haltemannschaft. Zur Not kann ich sie sogar allein steuern.«

»Jaipin

»Das ist Yarodi und bedeutet Sandsturm.«

Vivana blickte aus dem Seitenfenster. »Wo ist Ruac?«

»Ich nehme an, er fliegt hinter uns. Ein echter Lindwurm, ja? Ich dachte, sie wären alle verschwunden. Woher hast du ihn?«

»Lange Geschichte. Ich sehe mal nach, ob er noch da ist.«

Sie ging zum Aufenthaltsraum und trat ans Heck der Gondel, das vollständig verglast war. Tief unter dem Luftschiff zog das Meer dahin, und in der Ferne glitzerten die Lichter Bradosts. Es dauerte eine Weile, bis sie Ruac am Nachthimmel entdeckte. Sie erahnte ihn mehr, als dass sie ihn sah: ein dunkler Fleck, der dort, wo er flog, die Sterne verdeckte. Unbeirrt folgte er dem Luftschiff, aber ihm auf gerader Bahn nachzufliegen, schien dem Lindwurm auf Dauer zu langweilig zu sein. Manchmal sauste er Richtung Meer und verschwand aus ihrem Blickfeld, um weniger später blitzschnell aus der Tiefe aufzusteigen und mit ausgebreiteten Schwingen einen Looping zu vollführen.