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Zweieinhalb Tage, dachte Vivana voller Unbehagen. Würde Ruac so lange durchhalten?

Der Südländer ging zu einem Gaskocher in einer kleinen Nische, nahm einen Topf mit kochendem Wasser herunter und goss damit den Kaffee auf. »Setzt euch in den Aufenthaltsraum. Ich mache uns Frühstück. Ihr habt gewiss Hunger.«

Vivana verschwand im kleinen Badezimmer, wo sie sich den Schmutz der letzten Tage abwusch. Ihre Kleider starrten vor Dreck. Sie stopfte sie in den Wäschesack und zog die Sachen an, die sie von Khoroj bekommen hatte: einen Satz Arbeitskleider. Sie waren ihr viel zu groß, aber wenigstens waren sie sauber. Vivana schlüpfte hinein und krempelte Ärmel und Hosenbeine hoch. Endlich fühlte sie sich wieder erfrischt.

Als sie zu den anderen in den Aufenthaltsraum ging, türmten sich auf den beiden Tischen bereits Brot, Obst, Räucherwurst, Hartkäse, Konfitüre und andere Schätze aus der Speisekammer der Jaipin. Während sie aßen, erzählte Khoroj von seinen Reisen. Vivana wurde klar, dass er nun in Bradost als Verräter und Verschwörer galt. Sollte er je zurückkehren, musste er damit rechnen, verhaftet und eingesperrt zu werden. Außerdem würde die Geheimpolizei systematisch seine Existenz vernichten, seine Bankkonten einfrieren und all seinen Besitz beschlagnahmen. Er hatte alles verloren – nur weil er ihnen geholfen hatte.

Genau wie Madalin und Godfrey, dachte sie niedergeschlagen. Sie bewunderte Khoroj für die Gelassenheit, mit der er sein Schicksal hinnahm.

Schließlich kamen auch Jackon, Nedjo und Liam aus den Kabinen. Nach dem Frühstück brachte Liam die Sprache auf den gestrigen Abend.

»Was war das, was du Umbra zugerufen hast?«, wandte er sich an Jackon. »Was für ein Mord an ihrer Familie?«

»Umbra hat mir erzählt, dass ihre Familie vor ein paar Jahren ausgelöscht worden ist. Sie hat immer gedacht, ein verfeindeter Clan aus dem Rattennest hätte das getan. Aber das stimmt nicht. Lady Sarka steckt dahinter.«

»Das hat dir die destillierte Erinnerung von Mama Ogda gezeigt?«, fragte Lucien.

Jackon nickte. »Ich wünschte, sie hätte mir geglaubt. Sie hätte mit uns kommen und uns helfen können.«

»Diese Hexe hätte uns gerade noch gefehlt«, brummte Quindal.

»Sie ist keine Hexe. Sie ist vielleicht ein bisschen, na ja, ungehobelt, aber in Wahrheit ist sie ein guter Mensch.«

»Das glaubst auch nur du.«

»Wirklich! Sie ist nicht wie Corvas und Amander.«

»Großer Gott!«, keuchte Nedjo.

»Was ist denn?«, fragte Vivana.

»Seht mal da draußen.«

Sie stürzten zum Heckfenster. Eine Meile von ihnen entfernt wühlte ein gewaltiger Wasserstrudel den Ozean auf. Er hatte einen Durchmesser von mehreren hundert Schritt und klaffte wie ein Krater im Meer. Treibgut tanzte auf den Trichterwänden und verschwand in den tosenden Tiefen.

Gebannt betrachtete Vivana das Naturspektakel. In der Nähe des Wirbels entdeckte sie mehrere Schemen, die unter den Wellen dahinhuschten. Fische? Falls ja, waren es sehr große.

»Noch ein Riss«, murmelte Lucien.

»Was?«, fragte Vivana.

»Auf dem Meeresboden hat sich ein Tor zum Pandæmonium geöffnet und wühlt den Ozean auf. Hast du etwa gedacht, die Spalte in Bradost wäre der einzige Riss in den Lichtmauern? Es passiert überall auf der Welt. Und es werden immer mehr.«

Leise hörte Vivana sich sagen: »Diese Schemen da drüben... Das sind also gar keine Fische, das sind...«

»Dämonen, ja.«

»Ich habe noch nie gehört, dass es welche gibt, die schwimmen können«, bemerkte Nedjo.

»Ich auch nicht, aber was heißt das schon«, erwiderte Lucien. »Das Pandæmonium ist riesig, und Dämonen können sich an jede Umgebung anpassen.«

Stille herrschte im Raum, während der Wirbel langsam in der Ferne verschwand. Vivana dachte an das Pandæmonium, an die Ebenen voller Asche und die verbrannten Hügel unter dem glühenden Himmel, wo es nichts gab außer Tod und Verderben.

Sah ihre Welt bald genauso aus?

Der Rest des Tages verlief ereignislos. Jackon versuchte, sich nützlich zu machen, indem er Khorojs Leibwächtern half, Aetherfässer und Ersatzteile vom Fracht- in den Maschinenraum zu schleppen. Anschließend schlug er die Zeit tot und sah Liam und Nedjo dabei zu, wie sie im Aufenthaltsraum Fechten übten. Der Manusch hatte angeboten, Liam den Umgang mit Dolch und Säbel beizubringen, damit er sich wehren konnte, wenn sie das nächste Mal auf Feinde trafen. Verbissen trainierte der Blonde verschiedene Angriffs- und Verteidigungstechniken und wurde dabei ständig von Nedjo korrigiert, obwohl Jackon fand, dass er sich nicht schlecht schlug.

Begebenheiten wie diese führten ihm vor Augen, dass er nach wie vor nicht zur Gruppe gehörte. Er hatte es genauso nötig, sich verteidigen zu können, doch Nedjo war gar nicht auf die Idee gekommen, ihn zu fragen, ob er bei dem Training mitmachen wolle. Vivanas Prüfung der Wahrheit mochte Liam und seine Gefährten davon überzeugt haben, dass er auf ihrer Seite stand – als Freund betrachteten sie ihn deswegen noch lange nicht. Lucien war der Einzige, der ihn wie ein gleichwertiges Mitglied ihrer Gemeinschaft behandelte. Wenn er wenigstens seine Fähigkeiten gehabt hätte... Ohne seine Kräfte kam er sich vor wie ein Klotz am Bein.

Jackon hatte es so satt. Wie lange sollte er noch für seine Fehler büßen?

Ruckartig stand er auf. »Ich will auch kämpfen lernen.« Nedjo und Liam ließen die Waffen sinken. »Bist du sicher?«, fragte der Manusch.

»Glaubst du, mir gefällt es, wehrlos zu sein, wenn uns Spiegelmänner angreifen? Ich will mich verteidigen können und nicht immer darauf angewiesen sein, dass irgendwer mich beschützt.«

Nedjo musterte ihn von oben bis unten, und sein Blick sagte: Du Hänfling willst also kämpfen lernen? Jackon beschloss, es ihm zu zeigen. Er war vielleicht klein und schmächtig, aber das Leben in den Kanälen mit ihren tausend Gefahren hatte ihn zäh gemacht.

»Also gut. Hast du schon einmal mit einem Säbel gekämpft?«

»Ich hatte früher einen alten Kavalleriesäbel, aber die Klinge war abgebrochen.«

»Dann ist es wohl besser, wir fangen nicht mit scharfen Waffen an.« Nedjo gab ihm ein handliches Holzstück, mit dem schon Liam die ersten Schritte geübt hatte. »Stell dir vor, das ist ein Säbel. Halt ihn so – genau. Wenn du angreifst, hol nicht zu weit aus, damit öffnest du deine Deckung. Dreh den Oberkörper von deinem Gegner weg. Das macht es ihm schwerer, gefährliche Stellen zu treffen. So. Jetzt versuch, mich anzugreifen.«

Jackon sprang vor und deckte Nedjo, der ebenfalls ein Holzstück schwang, mit einer schnellen Serie von Hieben ein. Zwar gelang es ihm nicht, den Manusch zu treffen, doch er schaffte es immerhin, seinen Gegner so heftig zu bedrängen, dass dieser ins Schwitzen kam.

»Das war nicht schlecht für den Anfang«, sagte Nedjo beinahe widerwillig. »Ich denke, wir können doch mit richtigen Waffen beginnen.«

»Zeig's ihm, Jackon!«, rief Liam, als Jackon den Säbel nahm.

Mehr als eine Stunde lang übte er die verschiedenen Techniken, die Nedjo ihm zeigte. Die wichtigsten wiederholte er so oft, bis der Manusch nichts mehr daran auszusetzen hatte.

Es war so mühsam, dass er am liebsten schon nach zehn Minuten aufgehört hätte. Dass er durchhielt, war allein Liam zu verdanken, der ihn unaufhörlich anfeuerte. Am Ende strömte ihm der Schweiß aus allen Poren.

»Gut gemacht«, sagte Nedjo grinsend. »Du hast Talent.« Und dann klopfte er Jackon freundschaftlich auf den Rücken.

Als es dunkel wurde, legte Jackon sich im Frachtraum hin. Es machte ihm nichts aus, den anderen die Passagierkabinen zu überlassen. Er war daran gewohnt, an zugigen und unbequemen Orten zu nächtigen, mit lediglich einer dünnen Strohmatte als Bett.