»Das ist aber ein trauriges Ende«, meinte Liam.
»Ja«, sagte Lucien. »Die alten Geschichten sind immer traurig. Aber wenn ihr wollt, erzähle ich euch jetzt eine lustige. Es war einmal ein Schweinezüchter, der hieß Will...«
Die Stunden verstrichen, während Lucien, Quindal, Liam und Vivana abwechselnd Märchen und Legenden zum Besten gaben. Jackon blieb wach bis zum Morgengrauen. Dann forderten die Strapazen der letzten Tage ihren Tribut, und er wurde so müde, dass er kaum noch die Augen offen halten konnte. Mit letzter Kraft schleppte er sich zum Frachtraum und legte sich auf seine Matte. Nur fünf Minuten, dachte er. Fünf Minuten, und dann stehe ich wieder auf.
Er schloss die Augen und schlief auf der Stelle ein.
»Hallo Jackon«, wisperte Lady Sarka.
27
Der Handelsposten
»Noch eine Nacht stehen wir nicht durch«, sagte Quindal am nächsten Morgen. »Wir müssen etwas unternehmen.«
Liam umklammerte mit beiden Händen seine Kaffeetasse. Er war noch ganz gefangen in seinem Albtraum, obwohl er bereits seit einer halben Stunde hiersaß. Ein Teil von ihm schien nach wie vor durch die dunklen Grabgänge zu irren, verfolgt von Schritten, die näher und näher kamen. Wenn er die Augen schloss, sah er wieder das Leichengesicht seines Vaters, halb verwest und voller Maden, und hörte ihn leise flüstern: Sieh mich an, Liam. Das ist deine Schuld. Du hättest mich retten können, aber du warst zu feige... zu feige... zu feige...
Er wusste nicht, was die anderen geträumt hatten. Ihren blassen Gesichtern nach zu schließen, war es noch schlimmer gewesen als in der Nacht davor. Keinem seiner Gefährten war es gelungen, wach zu bleiben. Irgendwann in den frühen Morgenstunden hatte die Müdigkeit sie einen nach dem anderen überwältigt, und sie waren hinabgeglitten in dunkle Träume aus den Abgründen ihrer Seelen, heraufbeschworen von Lady Sarka.
Am meisten sorgte sich Liam um Nedjo. Der Manusch hatte heute Morgen noch kein einziges Wort gesagt. Bleich und in sich gekehrt saß er da und zuckte bei jedem unerwarteten Geräusch zusammen. Beim Frühstück hatte er keinen Bissen angerührt und die ganze Zeit nervös mit seinem Messer hantiert, bis Lucien es ihm behutsam weggenommen hatte.
»Das ist einfacher gesagt als getan«, griff der Alb Quindals Appell auf. »Wenn Jackon und ich unsere Kräfte noch hätten, könnten wir versuchen, eure Seelenhäuser vor Lady Sarka zu schützen. Aber so sind wir machtlos.«
»Kannst du etwas Magisches machen, um uns zu schützen?«, wandte sich Liam an Vivana.
»Ich habe schon in Livias Büchern nachgesehen«, antwortete sie. »Es gibt leider keinen Schutzzauber gegen Albträume.«
»Aber es gibt einen Schutztrank«, sagte Jackon. »Wenn man ihn einnimmt, träumt man nicht mehr. Lady Sarka hat ihn mir gegeben, als Aziel nach mir gesucht hat.«
»Wir kennen diesen Trank«, erwiderte Liam müde. »Aber wo sollen wir ihn hernehmen? Wir sind mitten über dem Ozean. Hier gibt es weit und breit nur Wasser.«
»Nicht ganz«, sagte Vorod Khoroj. Er hatte das Steuer der Jaipin seinen Leibwächtern übergeben, damit er mit den Gefährten frühstücken konnte. Liams Hoffnung, Lady Sarka würde wenigstens ihn verschonen, hatte sich nicht erfüllt. Nachdem sich Khoroj gegen vier Uhr morgens für zwei Stunden hingelegt hatte, war er prompt von ihr heimgesucht worden. »Hier in der Nähe gibt es eine Insel mit einem kleinen Handelsposten«, fuhr der Südländer fort. »Soweit ich weiß, lebt dort auch ein Hermetiker. Vielleicht haben wir Glück und finden dort Jackons Trank.«
»Hermetiker?«, wiederholte Liam mit gerunzelter Stirn. »So nennen wir in Yaro D'ar Alchymisten.«
»Liegt die Insel auf unserem Weg?«, fragte Quindal.
»Leider nicht. Wir müssten einen Umweg von einem halben Tag machen.«
»Reicht dafür der Treibstoff?«
»Das sollte kein Problem sein. Auf der Insel können wir die Tanks der Jaipin auffüllen.«
Ein paar Stunden später kam die Insel in Sicht. Es handelte sich um ein karges Eiland, auf dem kaum etwas wuchs, mit Steilklippen im Norden, an denen sich Gischt schäumend die Wellen brachen. Ein paar Ginsterbüsche klammerten sich an die salzverkrusteten Felsen, die nach Süden hin abfielen und eine kleine Bucht bildeten. Ein knappes Dutzend Häuser stand dort, einstöckige Steingebäude mit kleinen Fenstern und Schieferdächern. An einem Anlegesteg lag ein Fischerboot; die anderen waren leer.
Khoroj steuerte die Jaipin zu einem Ankermast auf einer freien Fläche hinter der Siedlung. Heftige Windböen zerrten an dem Luftschiff, wurden jedoch schwächer, als es im Schutz der Felsen landete.
Der Südländer gab Quindal ein Bündel Geldscheine. »Kauf so viel Aether, wie du bekommen kannst«, wies er den Erfinder an. »Ich warte hier auf euch.«
Die Maschinen verstummten. Liam und seine Gefährten stiegen aus und überquerten das Landefeld. Der Wind riss an ihrer Kleidung und zerzauste ihnen das Haar. Es roch nach Algen.
Liam hielt nach Ruac Ausschau und entdeckte ihn oben auf den Steilklippen. Der Lindwurm hatte sich zusammengerollt und schien zu schlafen.
»Viel los ist hier ja nicht gerade«, sagte Vivana. »Wo sind denn die ganzen Leute?«
»Irgendetwas stimmt hier nicht«, murmelte Quindal. »Wir hätten unsere Waffen mitnehmen sollen.«
»Hier, nimm die«, sagte Nedjo und reichte ihm eine Pistole. Eine zweite steckte hinter seinem Gürtel. Der gehetzte Ausdruck in seinen Augen gefiel Liam ganz und gar nicht.
Wachsam folgten sie dem Weg. Als sie die Häuser erreichten, bemerkte Liam, wie still es hier war. Die Siedlung wirkte vollkommen verlassen. Es gab keine Menschen, keine Tiere, nichts.
»In Ordnung«, sagte er angespannt. »Ich schlage vor, wir suchen den Trank und den Aether und verschwinden, so schnell wir können.«
Vor ihnen lag ein etwa dreißig Schritt durchmessender Platz, gepflastert mit Steinplatten. Holzfässer und ein Handkarren standen herum. Lucien ging zu einem Gebäude, das wie eine Mischung aus Laden und Lagerhaus aussah. Vorsichtig und mit gezücktem Messer öffnete er die angelehnte Tür. Knarrend schwang sie nach innen.
Der Alb setzte einen Fuß auf die Türschwelle – und prallte zurück.
»Was ist da?«, keuchte Liam. Bevor Lucien die Tür zuschlug, sah er noch, dass drinnen jemand auf dem Boden lag, in einer Lache aus getrocknetem Blut.
»Zurück zum Luftschiff, sofort!«, rief der Alb.
Im gleichen Moment fing Nedjo an zu schießen.
Liam wirbelte herum und bemerkte eine Gestalt auf dem Dach des Nachbarhauses, ein Wesen wie ein Wasserspeier, mit Hörnern, Flügeln und Klauen. Es kam hinter dem Dachfirst hervor und öffnete fauchend ein Maul voller Fangzähne, bevor es die Schwingen spreizte und sprang.
Quindal schoss ihm in den Kopf. Es fiel vor ihnen zu Boden, zuckte noch einmal und starb.
»Lauft!«, brüllte der Erfinder.
Liam war wie gelähmt. Ein Dämon, dachte er wieder und wieder, während er das tote Geschöpf anstarrte. Als er schrilles Kreischen hörte, hob er den Kopf. Aus den Fenstern eines Hauses auf der anderen Seite des Platzes kletterten weitere Dämonen, koboldartige Wichte mit knochigen Gesichtern und spitzen Ohren, die gezackte Messer und Hornspeere schwangen. Sie lachten meckernd und warteten auf einen riesigen schwarzen Käfer, der zwischen den Gebäuden erschien. Auf dem Rücken des Insekts ritt ein etwas größerer Kobolddämon, in einer Klaue eine Lanze, in der anderen ein Netz aus knotigen Strängen. Als er seine Waffe in die Höhe reckte, griff die Horde an.