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Sie liefen zum Aufenthaltsraum und blickten zur Insel. Ruac auf seinem Felsen wurde immer kleiner. Das Letzte, was Liam sah, war, dass die drei Dämonenvögel zu den Klippen flogen und den Lindwurm umkreisten wie Aasfresser ein sterbendes Tier. Dann wurde die Insel zu einem dunklen Fleck in der Ferne, der allmählich im Grau des Meeres verschwand.

Vivana legte eine Hand auf das Fensterglas. Tränen rannen über ihr Gesicht, das sich blass und trüb in der Scheibe spiegelte.

Liam nahm sie in die Arme.

28

Die Stadtflöße von Yaro D'ar

Leise öffnete Vivana die Tür und betrat die Passagierkabine. Nedjo war wach.

»Wie geht's dir?« Sie klappte den Tisch aus, stellte das Tablett ab und setzte sich auf die Bettkante.

»Großartig«, krächzte er. »Ich könnte Bäume ausreißen.«

Vivana kaute auf der Unterlippe. Es tat ihr weh zu sehen, wie Nedjo dalag, ans Bett gefesselt wie ein gefährlicher Irrer in einer Anstalt für Geisteskranke. Unter der Schlafstelle schaute eine improvisierte Bettpfanne hervor. Ihr Vater hatte sie aus einem alten Motorgehäuse zurechtgebogen, denn es war ihnen zu riskant erschienen, Nedjo loszubinden, wenn er auf die Toilette musste.

Wenigstens hatte er aufgehört zu toben – weil er viel zu erschöpft war. Genau wie Vivana, ihr Vater, Liam, Jackon und Khoroj hatte er die letzte Nacht durchgemacht. Sie hatten aus der Nacht zuvor ihre Lehre gezogen und Khorojs Männer gebeten, sich nachmittags hinzulegen, damit sie bei Einbruch der Dunkelheit ausgeruht waren und aufpassen konnten, dass keiner von ihnen einnickte. Obwohl die Südländer mehrere Stunden geschlafen hatten, waren sie nicht von Lady Sarka heimgesucht worden. Warum sie die beiden verschonte, darüber konnten die Gefährten nur Vermutungen anstellen. Möglicherweise, so Luciens Theorie, wusste sie nichts von den Söldnern und kam daher nicht auf die Idee, in ihre Seelenhäuser einzudringen.

Nach der durchwachten Nacht war Vivana todmüde, aber das nahm sie gern in Kauf, wenn ihr dafür Lady Sarkas Albträume erspart blieben.

»Hier«, sagte sie. »Ich habe dir Frühstück gebracht. Du hast bestimmt Hunger.«

Nedjo grinste schief. »Ich fürchte, du musst mich füttern.«

»Das macht mir nichts aus. Könntest du mit dem Kopf ein bisschen hochrutschen? Ja. So ist es gut.«

Vivana presste die Lippen zusammen, führte ihm die Kaffeetasse zum Mund – und hielt inne. Nein. Das war entwürdigend. Sie stellte die Tasse aufs Tablett und begann, einen Knoten zu lösen.

»Was machst du da?«

»Ich binde dich los, das siehst du doch.«

»Bist du sicher, dass das eine gute Idee ist?«

»Wieso? Hast du vor, mich anzugreifen?«

»Ich habe Angst, dass ich wieder die Kontrolle über mich verliere. So wie gestern. Dieser Anfall ist einfach über mich gekommen. Ich weiß nicht, was mit mir los war. Ich konnte nichts dagegen tun.«

»Du hattest einen Nervenzusammenbruch. Verständlich, nach allem, was passiert ist.«

Nedjo verzog den Mund. »Ich komme mir vor wie ein Narr.«

»Du kannst doch nichts dafür. Wenn wir in Yaro D'ar sind, bringen wir dich zu einem Arzt.«

»Mir wäre es lieber, du würdest mir helfen.«

»Leider übersteigt das meine Fähigkeiten. Außerdem habe ich keine Heilkräuter mehr.«

»Aber ich hasse Ärzte.«

»Du gehst trotzdem hin«, beharrte Vivana. »Keine Widerrede. Ich bestehe darauf.«

»Du hörst dich schon an wie Livia«, murmelte er missmutig.

Sie öffnete den letzten Knoten, rollte das Seil zusammen und legte es auf den Boden. Nedjo setzte sich auf und massierte seine schmerzenden Handgelenke. Dann trank er etwas Kaffee und aß von dem Brot und dem Käse, schaffte jedoch nur ein paar Bissen.

Anschließend legte er sich wieder hin. Er war sehr schwach und brauchte Ruhe. Vivana wollte ihn nicht allein lassen und blieb noch eine Weile bei ihm. Nedjo fiel es nicht leicht, die Augen offen zu halten.

»Meinst du, die Albträume kommen auch, wenn wir tagsüber schlafen?«, fragte er. »Lady Sarka kann unsere Seelenhäuser doch nicht rund um die Uhr beobachten.«

»Wir wissen nicht genug über ihre Fähigkeiten. Besser, du probierst es nicht aus.«

Vivanas Vater trat herein.

»Wieso hast du ihn losgebunden?«, fragte er mit Blick auf das Bett.

»Es geht ihm besser. Er braucht die Fesseln nicht mehr.«

»Das kannst du nicht beurteilen.«

»Doch, kann ich.« Sie tippte sich an die Schläfe. »Tante Livia, erinnerst du dich?«

Er gab ein Schnauben von sich. Es fiel ihm nach wie vor schwer zu verstehen, dass sie Dinge wusste, die sie eigentlich nicht wissen konnte. »Na schön. Keine Fesseln mehr. Aber wir beaufsichtigen ihn, bis wir in Yaro D'ar sind.«

Vivana bemerkte, dass Nedjo die Augen zugefallen waren. Sie schlug ihm sanft gegen die Wange. »He! Nicht einschlafen. Hier, trink noch einen Schluck Kaffee.«

Mit zitternden Händen nahm Nedjo die Tasse entgegen.

»Du hast noch gar nichts gegessen«, sagte ihr Vater. »Geh frühstücken. Ich übernehme hier.«

Vivana trottete zum Aufenthaltsraum, wo die Reste des Frühstücks auf den Tischen standen. Sie hatte überhaupt keinen Appetit. Sie nahm sich einen Kaffee und setzte sich ans Heckfenster. Wenig später ertappte sie sich dabei, dass sie jeden Quadratzoll des Himmels absuchte. Gegen alle Vernunft hoffte sie immer noch, Ruac könnte plötzlich am Horizont auftauchen.

Der dunkle Fleck da drüben – sah er nicht aus wie ein Lindwurm mit ausgebreiteten Schwingen?

Nein. Nur ein Schwarm Zugvögel.

Vivana senkte den Blick. Sie sollte aufhören, sich etwas vorzumachen. Sie waren inzwischen mehrere hundert Meilen von der Insel entfernt. Selbst wenn es Ruac gelungen war, die Dämonen in die Flucht zu schlagen und einen letzten Rest Kraft zu mobilisieren, hatte er keine Chance mehr, sie einzuholen.

Er würde nicht zurückkommen.

Wir haben ihn im Stich gelassen.

Sie dachte an das Versprechen, das sie ihm gegeben hatte, als er noch klein gewesen war: Ich passe immer auf dich auf. Ich lasse nicht zu, dass dir etwas zustößt. Niemals.

Ihre Augen füllten sich erneut mit Tränen.

Plötzlich bemerkte sie, dass jemand neben ihr stand. »Hey, Jackon«, murmelte sie und wischte sich das Gesicht mit dem Ärmel ab.

Der Rothaarige wirkte verlegen. »Ich halte auch schon den ganzen Morgen nach ihm Ausschau. Wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben.«

»Nein. Dürfen wir nicht.«

»Vielleicht hat er die Dämonen ja besiegt. Er ist sehr stark. Nicht mal vor den Spiegelmännern hatte er Angst.«

Vivana wünschte, sie könnte seine Zuversicht teilen. Sie schwieg.

»Na ja.« Jackon räusperte sich. »Du willst bestimmt allein sein. Falls du jemanden zum Reden brauchst oder so, sag einfach Bescheid, in Ordnung?«

»Warte«, sagte sie.

Er drehte sich um.

»Danke, dass du mir gestern geholfen hast. Das rechne ich dir hoch an.«

»Keine Ursache«, erwiderte er mit dem Anflug eines Lächelns und setzte sich wieder zu Liam und Lucien.

Vivana beobachtete ihn verstohlen. Sie hatte immer gedacht, Jackon und sie könnten niemals Freunde werden – nicht nach allem, was geschehen war. Aber vielleicht war er doch nicht so übel.

Eine halbe Stunde später rief Khoroj aus dem Steuerraum: »Land in Sicht!«

Liam und Jackon sprangen auf und stürmten nach vorn. »Kommst du nicht mit?«, fragte Lucien, während er seine Pfeife ausklopfte.

»Ich bleibe lieber hier«, sagte Vivana.

»Du verpasst etwas. Man fliegt nicht alle Tage mit dem Luftschiff über ein fremdes Land.«