»Ich bin nicht in Stimmung dafür, in Ordnung?«
»Gut, wie du meinst.« Lucien schob seine Pfeife hinter den Gürtel und schlenderte zum Steuerraum.
Vivana blickte abermals aus dem Fenster. Ja, sie war zu niedergeschlagen und müde, um fremde Landschaften zu bestaunen, aber der wahre Grund, warum sie nicht nach vorne gehen wollte, hieß Vorod Khoroj. Sie hatte keine Lust, sich mit dem Südländer in einem Raum aufzuhalten. Eigentlich wollte sie ihn überhaupt nicht sehen, wenn es sich vermeiden ließ. Er hatte die Entscheidung getroffen, Ruac zurückzulassen. Er war ohne ihn weitergeflogen. Natürlich wusste Vivana, dass er richtig und vernünftig gehandelt hatte, rein logisch betrachtet. Aber zum Teufel mit der Logik! Ihr Herz beharrte darauf, dass er ein gemeiner und egoistischer Mistkerl war.
Sei nicht ungerecht, meldete sich ihr Gewissen zu Wort. Es war nicht seine Schuld, dass wir Ruac nicht retten konnten. Außerdem ist er kein Egoist, ganz im Gegenteil. Ohne ihn säßen wir jetzt im Gefängnis. Er hat uns geholfen und dafür seine Existenz geopfert. Und so dankst du es ihm?
Plötzlich kam sie sich sehr kleinlich und engherzig vor. Seufzend stand sie auf und ging zum Steuerraum.
Ihre Gefährten drängten sich an den Fenstern. Sogar Nedjo war da. Er hielt sich an einem Pfosten fest und blickte fasziniert in die Ferne.
Einige Meilen vor ihnen erstreckte sich die Küste, ein schmaler Streifen aus Braun, Grau und Grün. Nicht gerade ein spektakulärer Anblick, trotzdem vergaß Vivana für einen Moment ihre düsteren Gedanken. Nach drei Tagen über dem offenen Meer tat es gut, wieder einmal Land zu erblicken. Mit Bäumen, Wiesen, Hügeln und Felsen.
Ein paar Minuten später fuhr das Luftschiff über einen Wald, einen gewaltigen Dschungel, der kein Ende zu nehmen schien. Dunstschleier hingen wie Spinnweben in Schluchten und Talsenken. Schwärme grellbunter Vögel stiegen zwischen turmhohen Bäumen auf, deren Stämme aus knotigen und ineinander verdrehten Wurzelsträngen bestanden. Flüsse, manche breiter als der Rodis, durchzogen den Wald, mäanderten durch das Grün, verzweigten sich und fanden wieder zusammen, gesäumt von Sträuchern und Büschen mit fleischigen Blättern und farbenfrohen Blüten. Alles wirkte warm und feucht und prall von Leben. Vivana konnte das Kreischen der Vögel und Summen der Insekten beinahe hören.
Ehrfurcht ergriff sie, obwohl sie schon einmal ähnlich riesige Waldgebiete gesehen hatte, in Torle, wo ein Teil ihrer Familie lebte. Wie mussten sich da erst Liam und Jackon fühlen, die Bradost noch nie verlassen hatten? Sie unterdrückte ein Schmunzeln, als sie sah, dass den beiden vor Staunen die Münder offen standen.
»Ich habe immer gedacht, Yaro D'ar wäre eine riesige Wüste«, sagte Nedjo.
»Yaro D'ar ist sehr groß«, erklärte Khoroj. »Die Wüste ist weit im Süden. Wir sind noch ganz im Norden, im Grenzland. Da drüben, das müsste schon Aquinia sein.«
Die Gefährten blieben im Steuerraum, denn hier war die Aussicht am besten. Zwei Stunden später überflogen sie den größten Fluss, den Vivana je gesehen hatte. Er musste mehr als fünf Meilen breit sein, die zahllosen Nebenarme und angrenzenden Sumpfgebiete nicht mitgerechnet, und glich einem schlammbraunen Band, das sich träge durch den Dschungel wälzte. Die Jaipin folgte seinem Lauf, bis sie nach weiteren zwei Stunden die Mündung erreichten. Der Strom bildete ein Delta, das so riesig war, dass man das Meer im Osten nur erahnen konnte.
»Fahren wir nach Vavanodii?«, erkundigte sich Vivanas Vater.
Vivana erinnerte sich, dass so Khorojs Heimatstadt hieß.
»Leider nicht«, antwortete der Südländer. »Vavanodii ist im Herbst weiter flussaufwärts. Dafür reicht unser Treibstoff nicht. Wir müssen die nächste Siedlung ansteuern, die wir sehen.«
Im Herbst weiter flussaufwärts? Vivana rätselte, was diese Bemerkung bedeuten mochte. Wie konnte eine Stadt den Standort ändern?
Wenige Minuten später erhielt sie die Antwort. Vor ihnen erblickte sie die Türme und Dächer einer Ortschaft, über der gemächlich drei Luftschiffe kreisten. Die Siedlung befand sich mitten auf dem Fluss und wies keine Brücken zum Ufer auf. Zuerst dachte Vivana, sie stände auf einer Insel oder auf Pfählen, aber dann wurde ihr klar, dass sie sich irrte.
Die kleine Stadt schwamm.
Eine Plattform trug die Gebäude, ein hölzerner Unterbau, der auf dem Wasser trieb. Die Konstruktion ähnelte Khorojs Haus. Nur dass sie viel, viel größer war.
»Wir haben Glück«, sagte Khoroj erfreut. »Das ist Suuraj. Die Kapitänmagistratin ist eine alte Freundin von mir. Sie wird uns herzlich empfangen.«
»Unglaublich«, flüsterte Jackon, der die schwimmende Stadt mit aufgerissenen Augen betrachtete.
Der Südländer lächelte. »Ja, staunt, meine Freunde. So etwas sieht man nicht jeden Tag, nicht wahr? Yaro D'ar ist voller Wunder, und das ist nur eines davon.«
»Ich habe darüber gelesen«, sagte Liam. »Das ist ein Stadtfloß, richtig?«
»Ja. Eines der kleineren, aber dafür das schönste, das je gebaut wurde.«
»Heißt das, es gibt mehrere davon?«, fragte Vivana.
»Fast zwei Dutzend. Auf den großen wie Vavanodii leben mehr als zwanzigtausend Menschen.«
Kurz darauf konnte Vivana Einzelheiten erkennen. Der Fluss um das Stadtfloß war gesprenkelt mit Booten und kleinen Kuttern, die an den Anlegestegen ihr Frachtgut löschten oder vollbeladen von dort kamen. Spezielle Kähne mit Ankermasten und ausladenden Decks trugen weitere Luftschiffe, die wie urzeitliche Leviathane auf dem Wasser trieben und sich die Sonne auf die Bäuche scheinen ließen. Eines startete gerade und kam ihnen von schräg unten entgegen, bis es die Richtung änderte und mit summenden Motoren südwärts zum Dschungel fuhr.
Das Stadtfloß selbst glich einer chaotischen Ansammlung von Holz und war weder rund noch eckig, sondern irgendetwas dazwischen, so als hätten sich die Planken wie Treibgut und Wrackteile zufällig auf dem Wasser zusammengefunden. Sie formten ein schwimmendes Eiland, das aus mehreren Plattformen bestand, zwei oder drei großen und unzähligen kleineren, miteinander verbunden durch Brücken, Stege und abenteuerlichen Konstruktionen aus Stangen und Tauwerk. Getragen wurde das Ganze von gewaltigen Blechfässern, aufgereiht an der Unterseite der Plattformen. Vivana erblickte mehrere haushohe Motoren aus schimmerndem Messing; vermutlich trieben sie das Stadtfloß an, wenn es den Fluss hinauf- oder hinunterfuhr. Momentan jedoch war das nicht der Fall. Riesige Ankerketten reichten straff gespannt ins Wasser und stellten sicher, dass es nicht abtrieb.
Die Gebäude waren ausnahmslos aus Holz gefertigt. Mit ihren Kuppeln, kunstvoll verzierten Türen und geschwungenen Freitreppen erinnerten sie Vivana an Khorojs Haus.
Die meisten waren einstöckig, doch in der Mitte der schwimmenden Insel gab es auch einige mit zwei, drei oder vier Stockwerken – augenscheinlich die Residenzen der Stadtoberen. Farbenfroh bemalte Türme reckten sich dem Himmel entgegen und fingen mit ihren vergoldeten Dächern das Sonnenlicht ein.
Niemand sprach. Obwohl Vivana und ihre Gefährten schrecklich müde waren, hatte der Anblick des Stadtfloßes sie schier überwältigt.
Der Bann brach, als die Maschinen zu stottern begannen. »Der Treibstoff geht uns aus«, erklärte Khoroj. »Wir müssen sofort landen.«
Der Südländer steuerte eine erhöhte Basis im Zentrum des Stadtfloßes an, auf der bereits ein etwas größeres Luftschiff ankerte. Er ließ Gas aus den Traggaszellen ab und landete buchstäblich mit dem letzten Tropfen Aether: Die Jaipin setzte gerade auf der Plattform auf, als die Motoren endgültig verstummten. Seine Männer stiegen aus und vertäuten das Schiff am Ankermast.
»Ich schlage vor, dass wir zuerst einen Arzt für Nedjo suchen«, wandte sich Khoroj an die Gefährten. »Anschließend gehen wir zu Jerizhin. Sie wohnt dort drüben im Kapitänspalast.«