Lady Sarka belohnte ihn für seine Entschlossenheit, machte ihn zu einem Leibwächter, schenkte ihm Einfluss, Wohlstand und Ansehen. Er dankte es ihr, indem er noch härter übte, bis er schließlich stark genug war, Aziel zu besiegen.
Und da zeigte sich plötzlich, dass es von Anfang an Lady Sarkas Plan gewesen war, Aziels Platz einzunehmen und über die Träume zu herrschen. Jackon fühlte sich hintergangen, doch sie redete auf ihn ein, zerstreute seine Bedenken, überzeugte ihn von der Redlichkeit ihrer Absichten. Er glaubte ihr, so wie er ihr stets geglaubt hatte. Sie hatte ihm ein neues Leben geschenkt – wer war er, an ihr zu zweifeln?
Dann überschlugen sich die Ereignisse. Liam, den er für tot gehalten hatte, lebte – und nicht nur das, er gehörte zudem einer Verschwörung gegen Lady Sarka an. Während ihre Leute Jagd auf Liam und dessen Gefährten machten, versuchte Jackon verzweifelt, die Katastrophe abzuwenden, seinen Freund zu retten. Vergebens – ihr heimliches Treffen endete im Streit, die Freundschaft zerbrach.
Schlimmer noch, Lady Sarka kam ihm auf die Schliche, verlangte von ihm, Liam auszuliefern. Er wollte sich weigern, wollte sich ihr widersetzen, aber da zeigte sich, dass sie ihn längst in der Hand hatte. Zu tief war er in ihre Machenschaften verstrickt, so sehr war er von ihr abhängig, dass er gehorchte – und Liam verriet.
Während Jackon die vorbeiziehenden Wolken beobachtete, erschien es ihm, als wären die Ereignisse der vergangenen Monate nur Stationen eines Weges gewesen, der ihn unweigerlich zu diesem Ende geführt hatte. Er wäre ein Dummkopf und ein Feigling, wenn er behauptete, dass er dagegen nichts hätte tun können. Er hatte immer eine Wahl gehabt, vom ersten Tag an. Seine Entscheidungen waren es, denen er verdankte, dass es so gekommen war.
Liam hatte Recht gehabt: Lady Sarka hatte ihn nur benutzt. Von Anfang an hatte sie ihn beeinflusst, hatte ihn mit Versprechungen, Lügen und Drohungen gefügig gemacht, bis ihm Macht und Einfluss zu Kopf gestiegen waren und er nicht mehr auf sein Gewissen gehört hatte. Und er war zu blind gewesen, das zu sehen. Auch damit hatte Liam Recht gehabt.
Er wünschte, er könnte die Zeit zurückdrehen bis zu jener Nacht im Kuppelsaal, als er zum ersten Mal Lady Sarka begegnet war. Damals hatte alles in ihm danach geschrien, zu fliehen, das Weite zu suchen, kein Wort von dem zu glauben, was sie sagte. Hätte er nur darauf gehört.
»Hier bist du. Ich habe dich überall gesucht.«
Jackon wandte sich um und entdeckte Umbra, die ihren Kopf durch eines der Löcher in der Buntglasscheibe steckte. Sie öffnete die rostige Tür und trat auf den Balkon.
»Was machst du hier oben?«
Er schwieg. Er hoffte, dass sie wieder ging.
»Ich bin auf dem Weg zum Ministerium. Kommst du mit? Corvas und ich könnten deine Hilfe gebrauchen.«
»Wobei?«
»Die Gefangenen zu verhören.«
»Nein, danke«, murmelte er.
»Du hast immer noch ein schlechtes Gewissen, was?«
»Kann schon sein.«
»Hör auf damit. Du hast...«
»... das Richtige getan, ich weiß«, sagte er bitter.
»Manchmal muss man eben Dinge tun, die man nicht tun will«, meinte Umbra. »Es ist schwer, das einzusehen, aber irgendwann wirst du verstehen, dass es richtig war, Lady Sarka zu gehorchen. Das Wohlergehen vieler Menschen hängt davon ab.«
Jackon gab ein Schnauben von sich. Umbra glaubte das wirklich. Sie konnte einem beinahe leidtun.
»Was ist jetzt? Hast du vor, den ganzen Tag hier zu sitzen?«
»Lass mich in Ruhe.«
»Wie du willst. Aber lass die Grübelei. Das bringt nichts.«
Die Tür knarrte, als Umbra sie hinter sich schloss.
Jackon zog die Knie an den Oberkörper, legte die Arme darauf und blickte zu den Wolken empor. Sie bildeten immer neue Formen, während der Wind sie über die Stadt trieb, und er wünschte, er könnte mit ihnen fliegen, fort, bis ans Ende der Welt.
4
Das Ministerium der Wahrheit
Die Dunkelheit lastete so schwer auf Liam, dass er glaubte, sie würde ihn erdrücken. Er kauerte in einer Ecke seiner Zelle. Es war so finster, dass er nicht einmal die Tür und die kleine Holzpritsche sehen konnte. Die Luft roch nach altem Mauerwerk, nach Furcht und Hoffnungslosigkeit.
Er war allein. Wohin man Quindal, Lucien, die Manusch und die Kinder gebracht hatte, wusste er nicht – es musste Stunden her sein, dass man ihn von seinen Freunden getrennt und in diese winzige Kammer tief in den Gewölben des Ministeriums der Wahrheit geworfen hatte. Manchmal hörte er Schritte auf dem Gang, leise Stimmen und das Klappern von Schlüsseln. Geräusche, bei denen er jedes Mal zusammenzuckte und bang darauf wartete, dass die Stille zurückkehrte.
Er kannte die Geschichten über das Ministerium. Nur wichtige Gefangene wurden hierhergebracht, Feinde von Bradost, wie man sie nannte – Leute, die man verhören wollte. Es hieß, Corvas und seine Gehilfen besäßen ausgefeilte Techniken, mit denen sie jeden zum Reden brachten. Bis jetzt hatte man ihm keine einzige Frage gestellt. Worauf warteten sie? Dass Dunkelheit und Furcht ihn zermürbten?
Er hatte versucht zu schlafen, um für ein paar Stunden der Verzweiflung zu entkommen. Doch immer, wenn er die Augen schloss, sah er Vivanas Gesicht vor sich. War es den Spiegelmännern gelungen, sie aufzuspüren? Was, wenn sie von der Alten Arena zu Godfreys Versteck zurückgekehrt und ihnen geradewegs in die Arme gelaufen war? Er betete, dass sie sich in Sicherheit befand. Die Vorstellung, sie könnte wie er in einer dunklen Zelle sitzen und auf Corvas' Folterknechte warten, brachte ihn schier um den Verstand.
Er lehnte sich zurück, bis sein Kopf die Mauer berührte, und schloss die Augen. Er war so ein Narr. Ein überheblicher Dummkopf. Wie hatte er nur je glauben können, er könne etwas gegen Lady Sarka ausrichten? Sie war viel zu mächtig. Er hatte nie auch nur den Hauch einer Chance gehabt. Und zu allem Überfluss hatte er auch noch seine Freunde mit hineingezogen. Dass sie litten, war allein seine Schuld.
Sein Vater hatte es gewusst. Er hatte geahnt, dass die Suche nach dem Gelben Buch von Yaro D'ar nur Leid nach sich ziehen würde. Deshalb hatte er Liam all die Jahre verheimlicht, was er tat – um ihn zu schützen.
Liam wünschte, er hätte nie jemandem von dem Buch erzählt, Quindal nicht, und erst recht nicht Vivana. Hätte er versucht, es ohne fremde Hilfe zu finden, wäre es nie so weit gekommen.
Stimmen erklangen vor der Zellentür. Ihm wurde kalt, als er sie erkannte. Corvas und Umbra.
Lass sie weitergehen. Bitte lass sie weitergehen!
Ein Schlüssel knirschte im Schloss. Von plötzlicher Furcht gepackt, stand Liam auf. Die Tür öffnete sich, und Licht flutete herein, so hell, dass er schützend die Hand vor das Gesicht halten musste.
»Lasst mich allein mit ihm«, sagte Corvas. Die Tür schloss sich, und der Bleiche stellte die Lampe auf den Boden. »Setz dich«, befahl er.
Liam nahm die Hand herunter. Er rührte sich nicht von der Stelle.
»Ich habe einige Fragen an dich. Ich rate dir, sie zu beantworten. Du ersparst dir damit viel Leid.«
Liam schluckte. Nun war es also so weit: Das Verhör begann.
»Erzähl mir von euren Plänen«, sagte Corvas ohne Umschweife. »Was hattet ihr mit dem Buch vor? Habt ihr es gelesen? Hat euch jemand dabei geholfen?«
Liam war entschlossen, sich nichts anmerken zu lassen, obwohl er den krähenhaften Ausdruck in Corvas' Augen kaum ertrug. »Wie geht es meinen Freunden? Wo sind sie?«