Er verbannte diesen Gedanken und versuchte auch, sich nicht mehr vorzustellen, was noch alles in den Tiefen des Flusses lauern mochte. Sieh lieber nach Ruac. Er wartet bestimmt schon auf sein Futter.
Träge schlenderte er durch die abendlichen Gassen. Trotz der bedrückten Stimmung gingen die Leute weiterhin ihrem Tagwerk nach, flickten Boote, räucherten Fisch und hegten die kleinen Gärten auf den Dächern. In den vergangenen zwei Tagen hatte Jackon gelernt, dass das Leben auf dem Stadtfloß hart war. Der ständige Kampf gegen das unberechenbare Wetter und die Gefahren des Dschungels hatten einen zähen Menschenschlag hervorgebracht. Der Überfall der Dämonen mochte die Bewohner Suurajs ängstigen, aber er nahm ihnen nicht ihren Überlebenswillen.
Vorod Khoroj hatte Jackon etwas Geld gegeben, von dem er eine Tüte Fischabfälle kaufte, bevor er zum Magistratsgebäude im Zentrum des Stadtfloßes zurückging. Ruac lag den ganzen Tag auf einer der Luftschifflandeplattformen und sonnte sich; im Gegensatz zu Jackon konnte er von der Hitze nicht genug kriegen. Seit seiner Ankunft tat er kaum etwas anderes, als zu fressen und zu dösen. Die Strapazen des Fluges hatten ihn so sehr erschöpft, dass er sogar den Dämonenangriff verschlafen hatte.
Als Jackon die Rampe heraufkam, stellte er fest, dass die Soldaten ihm wieder einmal zuvorgekommen waren. Zwei Aeronauten warfen Ruac Fleischstücke zu und lachten, wenn er sie mit dem Maul aus der Luft fing. So ging das seit zwei Tagen. Es hatte nicht lange gedauert, bis die Soldaten ihre anfängliche Furcht vor dem Lindwurm abgelegt und ihn ins Herz geschlossen hatten. Nun fütterten sie ihn bei jeder Gelegenheit und brachten ihm ständig irgendwelche Leckereien.
Die Männer klopften Jackon freundschaftlich auf den Rücken und widmeten sich wieder ihrer Arbeit. Ruac machte einen langen Hals und schnüffelte an der Tüte.
»Sag bloß, du hast immer noch Hunger? Was soll ich Vivana sagen, wenn sie zurückkommt und du bist fett geworden?«
Ruac rieb den Kopf an seiner Schulter, bis Jackon sich schließlich erweichen ließ und die Tüte auf den Planken ausschüttelte. Heißhungrig, als hätte er tagelang nichts gefressen, machte sich der Lindwurm über die Fischköpfe her, die er – Jackon würde es nie verstehen – mehr liebte als jedes andere Futter.
Anschließend sah Jackon sich Ruacs Kratzer und Schrammen an. Zu seiner Erleichterung verheilten sie gut. Er hätte auch nicht gewusst, was er hätte tun sollen, wenn es anders gewesen wäre. Einen Tierarzt rufen? Wusste ein Tierarzt, wie man Schattenwesen behandelte?
Ruac ließ die Prozedur klaglos über sich ergehen. Jackon spürte, dass der Lindwurm ihm inzwischen vertraute. Wenigstens einer, dachte er traurig.
Er sah Vorod Khoroj den Magistratspalast verlassen und winkte ihm zu. Der Südländer stieg die Rampe zu den Landeplattformen hinauf.
»Wie geht es Ruac?«, erkundigte er sich.
»Besser. Aber er frisst ziemlich viel. Könnte ich noch etwas Geld haben?«
»Natürlich.«
Jackon steckte die Münzen ein. Ihm fiel auf, dass Khoroj besorgt wirkte. »Stimmt etwas nicht?«
»Ich war eben bei Jerizhin. Sie hat den ganzen Tag mit den Ratsleuten verhandelt. Ich fürchte, für unseren Plan sieht es nicht gut aus.«
»Sind die Priester immer noch unentschlossen?«
»Die Priesterschaft konnte sie inzwischen überzeugen. Aber das hilft uns nichts, solange Vai sich stur stellt.«
Tymerion Vai war der Befehlshaber der Aeronauten. Jackon hatte ihn heute Morgen bei der Ratssitzung gesehen, bei der er mit Khoroj und Jerizhin gewesen war.
»Er hasst Bradost«, fuhr Khoroj fort. »Er sieht nicht ein, warum er für uns seine Luftschiffe und seine Leute in Gefahr bringen soll.«
»Es geht überhaupt nicht um Bradost. Es geht um Lady Sarka und die Dämonen.«
»Das hat Jerizhin ihm auch gesagt. Aber Vai ist nun einmal ein verbohrter alter Soldat. Mit vernünftigen Argumenten kommt man bei ihm nicht weit. Und jetzt erst recht nicht mehr. Den Dämonenüberfall heute Mittag betrachtet er als Bestätigung, dass Suuraj alle Luftschiffe für seine Verteidigung braucht.«
»Die Luftschiffe haben sich doch überhaupt nicht an den Kämpfen beteiligt.«
»Ja, und selbst wenn sie es getan hätten, wären sie gegen die Flussdämonen vermutlich nutzlos gewesen. Doch davon will Vai nichts hören. Du hättest ihn eben sehen sollen. Er hat getobt vor Zorn und Jerizhin vorgeworfen, die Interessen von Ausländern über die Suurajs zu stellen. Bornierter Narr.«
Jackon hatte sich gefragt, warum Jerizhin den Aeronauten nicht einfach befahl, ihr zu gehorchen – immerhin war sie das gewählte Oberhaupt des Stadtfloßes. Inzwischen wusste er, dass die Dinge nicht so einfach lagen. Die Aeronauten besaßen seit dem Aufkommen der ersten Luftschiffe einen politischen Sonderstatus und achteten sorgsam darauf, ihre Unabhängigkeit zu wahren. Das machte es den Kapitänmagistraten seit jeher schwer, sie zu kontrollieren.
»Die nächste Ratssitzung ist morgen Früh, richtig?«, fragte er.
Khoroj nickte.
»Darf ich wieder mitkommen?«
»Natürlich. Aber stell dich besser auf einen langweiligen Vormittag ein. Jerizhin bleibt nichts anderes übrig, als weiter mit Vai zu verhandeln, in der Hoffnung, ihm Zugeständnisse abzuringen. Das kann dauern.«
Nachdem sich Khoroj verabschiedet hatte, ging Jackon zum Hospital und besuchte Nedjo. Der Manusch erholte sich langsam von seinem Nervenzusammenbruch und wirkte schon etwas kräftiger als gestern. Sie unterhielten sich eine Weile, bis die hübsche Pflegerin auftauchte. Von da an war Nedjo kaum noch in der Lage, sich auf das Gespräch mit seinem Besucher zu konzentrieren. Jackon kam sich schließlich überflüssig vor und ging, was der Manusch nicht einmal zu bemerken schien.
Es wurde bereits dunkel, als er zum Magistratspalast zurückkehrte. Wegen der Hitze war er ständig müde, und er beschloss, früh schlafen zu gehen. In dem Gästezimmer, das Jerizhin ihm zugeteilt hatte, legte er sich ins Bett und griff nach der Phiole mit dem Anti-Traum-Trank auf seinem Nachttisch.
Schon die ganze Zeit musste er an Luciens Worte denken: jetzt hast du die Chance, deine Kräfte für etwas Sinnvolles einzusetzen. Lass sie dir nicht entgehen, nur weil du Angst hast.
Er begriff allmählich, warum Lucien darauf bestanden hatte, dass er hierblieb. Und es dauerte nicht lange, bis er sich einen Plan zurechtgelegt hatte. Aber es gab sehr viele Unwägbarkeiten.
Wenn er seine Fähigkeiten einsetzen wollte, durfte er den Trank nicht mehr nehmen. Doch damit lief er Gefahr, dass Lady Sarka ihn wieder in den Träumen heimsuchte. Er wusste nicht, ob er noch einen Angriff von ihr überstehen würde. Möglicherweise setzte ihm eine neuerliche Traumattacke so sehr zu, dass es ihm wie Nedjo erging.
Und waren seine Kräfte überhaupt schon stark genug? Wegen des Tranks hatte er noch keine Gelegenheit gehabt, es auszuprobieren. Vielleicht war es noch viel zu früh.
Und dann war da noch das grundlegende Misstrauen, das er seiner Gabe entgegenbrachte. Bisher hatte sie nichts als Unheil verursacht. Warum sollte es diesmal anders sein?
Lange lag er da und betrachtete die Phiole – bis er sie schließlich öffnete und an die Lippen setzte.
Du jämmerlicher Feigling, dachte er.
Während er gemütlich im Bett lag und sich den Luxus von Selbstzweifeln leistete, blickten Liam, Vivana, Lucien und Quindal bereitwillig den Gefahren eines unbekannten Landes ins Auge und setzten ihr Leben aufs Spiel, um einen untoten Sterndeuter zu finden. Wie konnte er jemals erwarten, dass sie ihn als gleichwertigen Gefährten betrachteten, wenn er nicht bereit war, einen Beitrag zu leisten, weil er selbst das kleinste Risiko scheute?
Er verschloss die Phiole und stellte sie zurück auf den Nachttisch. Wenig später schlief er ein.