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»Der Phönix«, ächzte Vivana. »Seinetwegen sind wir hier.«

Plötzlich herrschte Stille. Die Augen des Nigromanten glitzerten in kaltem Feuer. Sie hätte zu gerne gewusst, was gerade in ihm vorging.

Der Phönix?, fragte er schließlich. Wo ist er?

»In Bradost, meiner Heimatstadt. Aber ich weiß nicht, ob es derselbe ist, der einst über Ilnuur gewacht hat.«

Es gibt nur einen Phönix. Wieder schwieg der Untote für einen Kurzen Moment. Wieso hat er sich nicht längst in die Anderwelt zurückgezogen wie all die anderen Schattenwesen?

»Weil er gefangen ist. Lady Sarka, die Herrscherin von Bradost, hat dein Buch gefunden und das Ritual ausgeführt. Sie hat ihn versklavt und an sich gebunden.«

Ihr ist gelungen, worin ich versagt habe?

»Ja. Nun nutzt sie seine Macht, um die Welt zu unterwerfen. Sie hat die Herrschaft über die Traumlanden an sich gerissen. Sie ist dafür verantwortlich, dass Dämonen ins Diesseits eindringen. Aber solange der Phönix in ihr steckt, kann niemand sie aufhalten.«

Und der Phönix hat sie nicht dafür bestraft? Er hat sie nicht verflucht, so wie er es mit mir getan hat?

»Er war nicht mehr so stark wie früher, als sie ihn gefangen hat. Er konnte sich nicht wehren.«

Also wirkt das Ritual. Shembars Stimme veränderte sich kaum merklich. Vivana konnte nicht sagen, ob er Stolz oder Schmerz empfand. Oder beides.

»Du bist der Einzige, der ihn retten kann«, sagte sie. »Nur du bist stark genug, den Bindezauber zu brechen und ihn zu befreien. Bitte, komm mit uns nach Bradost.«

Warum sollte ich das tun? Der Phönix war es, der mir dies angetan hat. Ich hasse ihn mehr als alles andere auf der Welt.

»Wenn du ihn befreist, wird er den Fluch von dir nehmen.«

Der Phönix ist so mächtig wie ein Gott. Er wird mir mein Verbrechen nie vergeben.

»Vielleicht doch. Er ist auch gütig.«

Der Blick des Nigromanten schien sie zu durchbohren. Ich spüre eine Kraft in dir, die selten geworden ist. Wer bist du, dass du glaubst, du könntest den Willen des Phönix voraussehen?

»Ich bin eine Wahrsagerin der Manusch, und ich trage das Wissen der Ahnen in mir.« Und als Vivana es aussprach, wusste sie: Dies war ihre Bestimmung.

Auf meinen Reisen in den Norden habe ich Manusch getroffen. Ihr seid weise. Die Schattenwelt achtet euch.

»Also wirst du mit uns kommen?«

Was, wenn du dich irrst? Wenn mich der Phönix zurückweist?

»Was hast du zu verlieren?«

Mahoor Shembar schwieg, regte sich nicht. Kälte und Schatten umgaben ihn wie ein fein gewebtes Gespinst.

»Wenn du hierbleibst, wird dein Leid niemals enden«, sagte Vivana vorsichtig. »Was ich dir anbiete, ist deine einzige Chance.«

Langsam, mit einem Knarzen wie von totem Holz, hob der Nigromant die Hand. Ein Luftzug bewegte die Gewandfetzen an seinen Armen.

Die Mumien fielen zu Boden, als sich Shembars Macht aus ihnen zurückzog, und sie bewegten sich nicht mehr.

Lass uns gehen.

Liams Kehle fühlte sich an wie zugeschnürt, als sie Mahoor Shembar durch die Gänge der Grabanlage folgten. Mit gemessenen Schritten ging der Untote voraus, und das Fleisch unter der zerschlissenen Robe knirschte wie brüchiges Leder. Das Böse, das von ihm ausging, war stärker als die dunklen Kräfte, die Liam im Spiegelsaal der Bleichen Männer gespürt hatte. Ihm wurde klar, dass Shembar weitaus älter und mächtiger war als die Geister der fünf Alchymisten.

Und Vivana hat ihn überredet, mit uns zu kommen – einfach so. Er konnte immer noch nicht glauben, was sich eben in dem unterirdischen Saal abgespielt hatte. Sie hatte von Anfang an Recht gehabt. Shembar war nicht ihr Feind. Es war sein Hass auf alles Lebende, der ihn dazu getrieben hatte, sie anzugreifen. Trotzdem war Vivana so mutig gewesen, mit ihm zu sprechen – weil sie erkannt hatte, dass er bei all seiner Grausamkeit nach wie vor einen Funken Menschlichkeit in sich trug.

In einem größeren Raum blieb der Nigromant stehen. Eine halb zerfallene Treppe führte zwischen den Säulen nach oben.

Das ist der Ausgang, wisperte er mit seiner Gedankenstimme.

»Großartig. Na los, gehen wir.« Liam konnte es kaum erwarten, endlich diesen Ort zu verlassen.

Nein. Wir warten, bis die Sonne untergegangen ist.

»Oh. Natürlich.« Liam bemerkte den schwachen Lichtschein im Treppenschacht und setzte sich auf einen Steinblock. Auch seine Gefährten nutzten die Gelegenheit, sich von den Strapazen der vergangenen Stunden auszuruhen. Shembar stand einfach da und wirkte wie abgeschaltet.

Nach einer halben Stunde schwand das Licht.

Weiter, sagte der Nigromant und stieg die Treppe hinauf.

Sie gelangten in den großen Saal eines verfallenen Palastes. Glühendes Abendlicht fiel durch Löcher im Dach und in den Wänden und zeichnete die Schatten von Säulen und gezacktem Mauerwerk auf den Boden.

Shembar blickte zu der einst prächtigen Kuppel auf.

»Hier hast du früher ge...wohnt, nicht wahr?«, fragte Vivana. Liam entging die kurze Pause nicht. Eigentlich hatte sie gelebt sagen wollen.

Ich war lange nicht mehr hier. Ich kann mich kaum daran erinnern.

»Vermisst du dein Zuhause?«

Ich empfinde weder Sehnsucht noch Traurigkeit. Außer Hass sind mir alle Gefühle fremd.

Der Nigromant schritt nach draußen.

»Warum tust du das?«, fragte Liam leise, während sie ihm folgten.

»Was?«, erwiderte Vivana.

»Mit ihm reden. Das ist gefährlich!«

»Ich weiß nicht... Ich glaube, er tut mir leid.«

»Liam hat Recht. Sprich nur mit ihm, wenn es unbedingt nötig ist«, mischte Lucien sich ein. »Nur weil er beschlossen hat, uns zu helfen, ist er nicht weniger bösartig.«

Schweigend marschierte die seltsame Gruppe durch die Ruinen Ilnuurs, bis sie kurz darauf zum Platz mit der Jaipin kamen. Khorojs Leibwächter hatten den Gaskocher aufgestellt und machten Suppe. Als sie Shembar bemerkten, standen sie auf und griffen nach ihren Waffen. Es gelang ihnen nur schwer, ihr Grauen zu verbergen.

Was ist das für eine wundersame Apparatur?, fragte der Nigromant.

»Ein Luftschiff«, erklärte Quindal. »Es wird uns nach Bradost bringen.«

Es fliegt?

»Ja.«

Erstaunlich. Ich dachte, die Magie wäre längst zu schwach, um solche Gerätschaften hervorzubringen.

»Es ist nicht in dem Sinne magisch, vielmehr wird es mit Aether...« Der Erfinder verstummte, als Vivana ihn mit dem Ellbogen anstieß.

»Wir sollten gleich aufbrechen«, sagte sie. »Je eher wir in Suuraj sind, desto besser.«

Die Leibwächter löschten den Gaskocher, kletterten in die Gondel und starteten die Maschinen. Shembar stieg nach Liam und Vivana ein, folgte ihnen zu den Passagierkabinen und schaute sich um.

Wirklich eine bemerkenswerte Apparatur. Liam glaubte, in den glühenden Augen so etwas wie Staunen zu sehen.

Vivana öffnete eine Tür. »Hier, das ist deine Kabine. Das Fenster kannst du schließen, wenn dich die Sonne stört.«

Ich danke dir, Vivana-von-den-Manusch.

Ein eisiger Hauch schien Liam über das Gesicht zu streichen, als der Nigromant an ihm vorbei in die Kabine trat und die Tür hinter sich schloss.

Er ließ den angehaltenen Atem entweichen und versuchte, nicht daran zu denken, dass er sich die engen Räumlichkeiten der Jaipin tagelang mit einem Untoten würde teilen müssen.