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Corvas gab keine Antwort. Reglos stand er da. Der Lampenschein zeichnete seinen Schatten auf die Zellenwand. »Warum konnten die Spiegelmänner euch in Godfreys Versteck nicht sehen?«, fuhr er fort. »Haben die Manusch etwas damit zu tun?«

Er blickte Liam abwartend an. Schließlich sagte er mit seiner tonlosen Stimme: »Wenn du nicht kooperierst, hole ich einen unserer Alchymisten. Sie verfügen über Mittel und Wege, deine Zunge zu lockern. Aber ich warne dich: Dieser Vorgang ist überaus unangenehm.«

Er ließ einige Sekunden verstreichen, die Liam wie Stunden vorkamen. »Wo verstecken sich Quindals Tochter und der Manusch namens Nedjo? Wieso haben sie das Versteck verlassen? Wohin sind sie gegangen?«

In seinem Entsetzen benötigte Liam einen Moment, bevor er begriff, was diese Frage bedeutete: Die Spiegelmänner hatten Vivana nicht gefasst – sie war in Sicherheit! Er hätte am liebsten gejubelt vor Erleichterung. Er lächelte Corvas an. »Ich habe keine Ahnung, wo die beiden stecken. Aber eins weiß ich sicher: Sie werden sie nie finden.«

»Ist das alles, was du zu sagen hast?«

Anstelle einer Antwort setzte sich Liam auf die Pritsche und schaute den Chef der Geheimpolizei herausfordernd an.

»Wie du willst. Aber du wirst dein Schweigen noch bereuen.« Corvas hob die Lampe auf und klopfte an die Tür. Nachdem er gegangen war, erfüllte wieder vollkommene Dunkelheit die Zelle. Liam wippte mit beiden Knien. Das Grauen saß ihm immer noch tief im Leib, aber zu wissen, dass es Vivana gutging, dass sie frei war, erfüllte ihn mit unbändiger Energie. Sollte Corvas doch eine ganze Armee Alchymisten holen! Von ihm würden sie nichts erfahren.

Es dauerte nicht lange, bis sich die Tür abermals öffnete. Draußen auf dem Korridor stand Corvas mit zwei Wachsoldaten. Ein Mann in einer schlichten Robe, grau wie Blei, trat ein. Er war noch bleicher als Corvas.

In der Hand hielt er eine kleine Kapsel aus Messing.

»Was ist das?«, fragte Liam gedehnt.

Der Alchymist drückte den Verschluss der Kapsel ein, und violetter Dampf strömte heraus. Die Schwaden bildeten mehrere Stränge, die auseinanderfächerten und sich wie neugierige Schlangen in der Luft wanden – und sich plötzlich zielstrebig auf Liam zubewegten, als verfügten sie über einen eigenen boshaften Willen.

Liam federte hoch und wich in eine Ecke der Zelle zurück, doch die Dampftentakel bewegten sich so schnell, dass er ihnen nicht entkommen konnte. Sie schossen über den Boden, krochen an seinen Beinen empor und schlangen sich um seinen Torso, seine Arme, seine Hände, so fest wie Drahtseile. Liam prallte gegen die Mauer, wand sich, kämpfte dagegen an, doch ohne Erfolg.

Ein Strang schloss sich um seinen Hals und erstickte seine Schreie.

5

Vivanas Schwur

Knisternd schlugen die Flammen höher, bis sie Livia volltändig einhüllten. Rauch stieg zu den Baumkronen auf, verfing sich zwischen dürren Ästen und feuerroten Blättern, zerfaserte im Wind.

Vivana und ihre Gefährten standen am Rand der kleinen Lichtung, die Köpfe gesenkt, die Kapuzen tief in die Gesichter gezogen. Die Luft war feucht und kalt hier in den Hügeln, und zwischen den Wipfeln der Ahornbäume konnte man in der Ferne die nebelverhangenen Felshänge von Karst sehen. Godfrey kannte einen alten Tunnel, der von den Katakomben des Labyrinths zum nördlichen Rand der Stadt führte, zu den Plantagen am Fuß der Hügel. Hierher hatten sie Livia gebracht, um ihren Körper unter freiem Himmel zu verbrennen, wie es Sitte bei den Manusch war.

Nedjo hatte ein altes Gebet gesprochen und die Totenklage gesungen, bevor er seine Fackel an das ölgetränkte Holz hielt. Niemand sprach ein Wort. Vivana schloss die Augen und spürte den Erinnerungen nach, die Livia ihr geschenkt hatte, ließ sie an sich vorüberziehen. Unzählige Menschen hatte die Wahrsagerin in ihrem Leben getroffen, sie mit ihrer Freundlichkeit und ihrer Hingabe berührt, ihnen Hoffnung gegeben, ihre Leiden gemindert. Sie alle hätten da sein sollen, Verwandte und Freunde, Manusch und Leute aus Bradost, sie hätten da sein sollen, um Abschied von ihr zu nehmen, um für sie zu beten. Doch niemand war da, nicht einmal ihr geliebter Madalin, nicht einmal ihre Kinder. Nur Vivana und Nedjo, Godfrey und Ruac. Vier Gestalten, schmutzig, verängstigt und zu Tode erschöpft.

Vivana ballte die Fäuste, bis sich die Fingernägel in ihre Haut gruben. In ihr war ein Zorn, wie sie ihn noch nie verspürt hatte. Stumm bewegten sich ihre Lippen, während sie unter den kahlen Ästen stand und dem Rauch nachblickte, der die Asche forttrug. Wind bauschte ihren Mantel auf, als sie Amanders Namen verfluchte und schwor, Rache zu nehmen für das, was er getan hatte.

6

Gestohlene Kräfte

Irgendwann wurde Jackon bewusst, dass es nieselte. Es musste schon seit einer ganzen Weile regnen, denn sein Wams war durchnässt, und Haarsträhnen klebten an seiner Stirn; er hatte es nur nicht bemerkt. Er blinzelte, als wäre er gerade aufgewacht. Dann öffnete er die Balkontür und stieg die Treppe des Erkertürmchens hinab. Er war so ausgelaugt, dass er sich am liebsten hingelegt hätte, doch mit jedem Schritt fühlte er sich ein klein wenig kräftiger.

Er hatte eine Entscheidung getroffen.

Er ging zu seinem Zimmer, wo er sich trockene Sachen anzog. Anschließend öffnete er den Schrank im Salon der Leibwächter und betrachtete die Waffen darin. Es gab Pistolen und Messer, Säbel und Rapiere. Seine Wahl fiel auf zwei Dolche. Er schob sich die Klingen hinter den Gürtel und verbarg sie unter seinem Mantel.

Niemand begegnete ihm, während er den Palast durchquerte. Das Anwesen wirkte noch verlassener als sonst. Schließlich kam er zu Silas Tornes Labor. Er lauschte an der Tür, bevor er sie vorsichtig öffnete. Drinnen roch es nach Schwefel und Schlacke und all den anderen Substanzen und Giften, mit denen der Alchymist Tag und Nacht hantierte. Jackons Blick wanderte über die Apparaturen, den Steintisch, die Regale. Überall zerbrochene Phiolen, umgeworfene Gerätschaften, seltsam riechende Pfützen auf dem Boden. In dem Raum herrschte ein Chaos, als hätte ein Wahnsinniger einen Tobsuchtsanfall erlitten und alles verwüstet.

Es war niemand da.

Jackon legte die Hand auf die Stelle, wo er die Dolche verbarg, und stieg so leise wie möglich über das Durcheinander. Als er gerade den Vorhang im hinteren Teil des Labors öffnen wollte, wurde dieser zur Seite gerissen.

Silas Torne stand vor ihm. Sein Kittel war von oben bis unten besudelt, er stank, und sein verbliebenes Auge schien zu glühen. »Was hast du hier zu suchen?«, fragte er barsch.

»Ich bin wegen Lucien hier. Umbra schickt mich. Ich soll nach ihm sehen.«

»Soll das ein Witz sein?«

»Äh, wieso?«, fragte Jackon verwirrt.

»Sie hat ihn weggebracht«, schnarrte der Alchymist. »Schon vor Stunden. Wenn du ihn sehen willst, geh verdammt noch mal in den Keller.«

Damit war sein ganzer Plan dahin. Jackon wünschte, er hätte sich einen besseren ausgedacht. Er setzte eine verärgerte Miene auf und fragte: »Wieso hat sie mir das nicht gesagt?«

»Woher soll ich das wissen? Jetzt verschwinde, und geh jemand anders auf die Nerven.« Torne schloss den Vorhang.

Jackon schlurfte ratlos aus dem Labor. Umbra hatte Lucien also in den Keller gebracht. Wo würde sie einen Alben einsperren, der bekannt dafür war, dass keine Zelle der Welt ihn lange halten konnte? Im ganzen Palast gab es nur einen Raum, der infrage kam: das Schattenwesengefängnis in den Höhlen. Umbra hatte es ihm gezeigt, als sie ihn nach seiner Ernennung zum Leibwächter im Palast herumgeführt hatte.

Es wurde allmählich Nacht. Jackon hastete durch dunkle Korridore und eilte wenig später die Treppe hinab. Die Glashöhlen waren so verlassen wie der Rest des Anwesens – der größte Teil der Spiegelmänner hielt sich immer noch im Ministerium der Wahrheit auf. Stille erfüllte die blau glühenden Tunnel.