Will Nachach Bradost für sich allein?
Sie hatte darüber nachgedacht, ihn umzubringen. Nach Wochen des Kampfes wusste Umbra, dass man Dämonen – obgleich wesentlich stärker und zäher als Menschen – recht einfach töten konnte. Ein gezielter Schuss in den Kopf genügte. Es wäre ein Leichtes für sie gewesen, mittels eines Schattentores unbemerkt in den Magistratspalast einzudringen, Nachach zu erledigen und wieder zu verschwinden, bevor ihr Nachachs Blutsklaven gefährlich werden konnten. Doch was würde danach geschehen? Würden die anderen Dämonen auch ohne ihren Anführer die Erdspalte abriegeln? Vermutlich nicht. Immer neue Ungeheuer würden durch den Riss strömen, bis Umbra und ihre Soldaten den monströsen Horden schließlich nichts mehr entgegenzusetzen hatten. Nein, es war klüger, Nachach am Leben zu lassen. Vorerst.
Der Captain kam die Treppe herauf. Umbra schob das Fernrohr zusammen und gab es dem Artilleristen zurück. »Sie haben mich rufen lassen, Frau Kommandantin.«
»Ich warte auf Ihren Lagebericht. Ich habe gehört, heute Morgen gab es einen Angriff?«
»Nur eine Hand voll Dämonen, die die Straßensperren durchbrechen wollten. Zwei Krieger und mehrere Kynokephalen. Wir konnten sie ohne Probleme zurückschlagen.«
»Verluste?«
»Zwei Milizionäre und ein Meldeläufer wurden leicht verletzt. Der Feldarzt hat sie bereits versorgt. Morgen sollten sie wieder einsatzfähig sein.«
»Weitere Vorkommnisse?«, fragte Umbra.
»Heute Nacht haben wir einen Verschlinger getötet. Er hat versucht, im Schutz der Dunkelheit in die Altstadt zu gelangen. Und dann wäre da noch der gestrige Vorfall. Ich nehme an, man hat Sie bereits darüber in Kenntnis gesetzt?«
»Mir ist nichts bekannt.«
»Aber wir haben ihn vorschriftsgemäß dem Hauptquartier gemeldet«, beharrte der Captain.
Umbra seufzte resigniert. Da sich die eigentliche Regimentskommandantur in der Alten Festung befand, waren sie gezwungen gewesen, sie Hals über Kopf zu räumen und in die Altstadt zu verlegen, in ein leer stehendes Patrizierhaus, das Corvas kurzerhand beschlagnahmte. Seitdem funktionierte überhaupt nichts mehr. Täglich verschwanden wichtige Informationen, Befehle kamen nie bei ihrem Bestimmungsort an. Umbra nahm sich vor, den Schreibtischhengsten und verantwortlichen Stabsoffizieren den Kopf zu waschen, nachdem sie Lady Sarka Bericht erstattet hatte. »Sagen Sie einfach, was passiert ist.«
»Es ist so...«, begann der Captain und unterbrach sich, als laute Rufe erklangen. »Bitte entschuldigen Sie, Frau Kornmandantin. Ich fürchte, das ist wichtig.«
Umbra folgte ihm zur anderen Seite des Dachs, wo mehrere Milizionäre zur Straße hinabstarrten. Hangabwärts waren zwischen den verlassenen Mietskasernen zwei schmutzige Menschen erschienen: ein Mann und eine junge Frau.
»Was ist los?«
»Sie wollen zu uns, Captain«, meldete einer der Soldaten. »Wir haben ihnen befohlen, nicht näher zu kommen.«
Der Captain trat an die Brüstung. »Wir lassen niemanden durch«, rief er den Leuten zu. »Gehen Sie, oder wir eröffnen das Feuer.«
Umbra glaubte, sich verhört zu haben. »Sind Sie verrückt geworden?«, fuhr sie den Offizier an. »Lassen Sie sofort die Leute durch!«
»Das können wir nicht riskieren.«
»Riskieren? Was reden Sie da, Mann? Es ist unsere vorrangige Pflicht, die Bewohner des Kessels in Sicherheit zu bringen.«
»Das ist mir klar, Frau Kommandantin«, erwiderte der Captain vorsichtig. »Darüber wollte ich gerade mit Ihnen sprechen. Es betrifft den gestrigen Vorfall. Es ist wohl am besten, ich zeige es Ihnen. Bitte folgen Sie mir.«
Die Soldaten blickten von Umbra zu ihrem Captain und wussten nicht, was sie jetzt tun sollten. Der Offizier befahl ihnen, die beiden Flüchtlinge nicht in die Nähe der Kanonengießerei zu lassen, und stieg eine Treppe hinab.
»Hätten Sie die Güte, mir Ihren grotesken Befehl zu erklären?«, fragte Umbra barsch, während sie dem Captain folgte. »Die Erklärung sitzt in dem Schacht da drüben.«
Sie durchquerten die Werkhalle und gingen an verstaubten Hochöfen vorbei, zwischen denen rostiges Werkzeug und alte Gussformen für Geschützrohre herumlagen. Bei einer runden Grube blieb der Captain stehen. Es handelte sich um ein altes Becken, das vermutlich einst Kühlwasser enthalten hatte. Es war mit einem Gitter abgedeckt.
Am Boden des Schachts kauerte ein Junge.
»Das ist der Grund, warum wir keine Flüchtlinge mehr durch die Straßensperren lassen«, erklärte der Captain.
Der Junge war etwa fünfzehn Jahre alt und so schmutzig wie ein Schlammtaucher aus der Grambeuge. Man hatte ihm Hände und Füße gefesselt und einen Knebel in den Mund gestopft.
»Das ist ein Kind, na und?«
In diesem Moment hob der Gefangene den Kopf und starrte sie an – und aus seinen Augen sprach solcher Hass, dass sie unwillkürlich einen Schritt zurückwich. Nein, mehr als Hass – pure, kondensierte Bösartigkeit.
»Die Dämonen haben ihre Strategie geändert«, sagte der Captain düster. »Sie übernehmen jetzt menschliche Körper. Dringen irgendwie in sie ein und ergreifen von ihnen Besitz. Wir wissen noch nicht genau, wie sie es anstellen. Der hier kam gestern Morgen zu unseren Stellungen und rief um Hilfe. Meine Leute hatten Mitleid mit dem armen Kerl und haben ihn zu sich geholt, wollten ihm Essen geben. Er hat drei von ihnen getötet, bevor die anderen begriffen haben, dass der Junge kein Mensch ist. Zum Glück konnten wir ihn überwältigen und hier einsperren. Er hat geschrien und getobt wie ein Teufel. Danken Sie Tessarion, dass Sie nicht dabei waren.«
Umbra konnte den Blick nicht von dem Jungen abwenden. Das Böse, das ihn umgab, war so machtvoll, dass sie es beinahe körperlich spürte. Äußerlich glich er einem Kind, aber sie fühlte, dass sich in seiner Seele ein Geschöpf eingenistet hatte, das älter und schrecklicher war als alles, was sie sich vorstellen konnte.
Der Junge – der Dämon – wand sich in seinen Fesseln, als er aufzustehen versuchte. Dabei gab er Grunz- und Knurrlaute von sich, bei denen es Umbra eiskalt über den Rücken lief.
»Wir sind nicht die Einzigen, die auf diese Weise angegriffen wurden«, fuhr der Captain fort. »Die Melder aus den benachbarten Abschnitten haben Ähnliches berichtet. Überall dasselbe: Die Wachen an den Straßensperren ließen sich täuschen und wurden hinterrücks abgeschlachtet. Verstehen Sie jetzt meinen Befehl?«
Umbra wandte sich von der Grube ab. Dämonen an sich waren schon entsetzlich, aber das übertraf alles. »Was haben Sie mit dem Jungen vor?«
»Ich bin Soldat – ich verstehe nichts von solchen Dingen. Meine Leute würden ihn am liebsten töten, aber das erscheint mir falsch. Immerhin war dieses Ding mal ein Kind. Einer meiner Unteroffiziere hat Manuschvorfahren. Er meint, man könne den Dämon vielleicht austreiben.« Der Captain blickte sie an. Er erwartete offenbar, dass sie ihm die Entscheidung abnahm.
»Ich muss mit Lady Sarka darüber sprechen. So lange bleibt der Junge in der Grube. Und er soll bewacht werden.« Umbra hatte die übermenschlichen Kräfte des Dämons gespürt. Sie bezweifelte, dass ihn Fesseln und ein rostiges Gitter lange aufhielten.
Sie kehrten zum Dach der Gießerei zurück. Der Captain schickte zwei Milizionäre nach unten und wandte sich dann an die Soldaten, die die beiden Flüchtlinge im Auge behielten. Diesmal ließ Umbra ihn gewähren, als er seinen Befehl wiederholte, auf die Leute zu schießen, wenn sie nicht verschwänden.
Mit zusammengekniffenen Lippen betrachtete sie die rauchverhangenen Ruinen des Kessels. Über dem Abgrund kreiste ein Verschlinger. Der Wind trug ferne Schreie herauf.
Ein Riss in den Mauern des Pandæmoniums. Dämonen, die Menschengestalt annehmen. Wie sollen wir diesen Krieg je gewinnen?
Sie stieg die Treppe hinab, öffnete in einer dunklen Ecke ein Schattentor und trat hindurch.