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Himmelsfeuer wurde es genannt.

Die Steuerleute und Maschinisten der Zhila lachten und klopften einander auf die Schultern. Sie hielten das Lichterspiel für ein gutes Omen, für einen Beweis der Gunst, die die Geister der Lüfte ihnen gewährten.

Liam eilte zu ihrer Passagierkabine und riss die Tür auf. »Vivana, komm schnell! Das musst du dir ansehen!«

Vivana saß auf ihrem Bett und las in einem von Livias Büchern. Eine tiefe Falte hatte sich zwischen ihren Augenbrauen gebildet, wie immer, wenn sie so in einer Aufgabe versunken war, dass sie alles um sich herum vergaß.

»Vivana?«

Sie hob flüchtig den Kopf »Ich kann nicht. Ich muss das fertig kriegen.«

Liam setzte sich zu ihr. »Was machst du da?«

»Ich suche nach einem Zauber, um Amander zur Strecke zu bringen.«

Er unterdrückte ein Schaudern, als er den grimmigen Ton in ihrer Stimme hörte. Es war ihr ernst mit ihrem Racheschwur.

Vivana zog ein Pergamentblatt aus ihrer Tasche, strich es auf dem Buch auf ihren Knien glatt und begann, die darin abgebildeten Runen und Symbole abzuschreiben.

»Was bewirken die Runen?«, fragte Liam.

»Habe ich dir schon erzählt, wie Amander zu dem wurde, was er ist?«

»Nein.«

Sie hörte nicht auf zu schreiben, während sie sprach. »Bis vor ungefähr zehn Jahren war er ein ganz gewöhnlicher Auftragsmörder. Er hat für verschiedene Unterweltclans in Torle gearbeitet und Verräter, Feinde und unliebsame Konkurrenten aus dem Weg geräumt. Eines Tages bekam er den Auftrag, das Oberhaupt einer Manuschsippe zu ermorden. Er erledigte das routiniert wie immer, wurde jedoch von der Frau des Manusch auf frischer Tat ertappt. Sie war eine Wahrsagerin wie Tante Livia. Bevor Amander sie ebenfalls töten konnte, belegte sie ihn mit einem alten Manuschfluch: Jeder Mensch, der ihm etwas bedeutete, sollte durch seine Hand sterben.«

Vivana blätterte um und kopierte auch die Symbole auf der nächsten Seite. »In den folgenden Tagen vergiftete Amander seine ganze Familie und seine Auftraggeber, ehe er begriff, was der Fluch bewirkte. Entsetzt floh er aus Torle und tauchte in Bradost unter. Er suchte nach einem Mittel, sich von dem Fluch zu reinigen, doch selbst die fähigsten Alchymisten und Mystiker erwiesen sich als machtlos dagegen. Schließlich wurde Lady Sarka auf ihn aufmerksam. Sie war beeindruckt von seinen tödlichen Kräften, schlug ihm vor, seine Not zur Tugend zu machen, und nahm ihn in ihre Dienste.«

Liam schwieg lange. In der Ferne grollte Donner und übertönte für einen Augenblick das Brummen der Luftschiffmotoren. »Das ist wieder eine von den Sachen, die du einfach weißt, richtig?«

»Seit Tante Livia mir ihr Wissen übertragen hat, ja.«

Er betrachtete die seltsamen Zeichen auf dem Pergament. Plötzlich erschienen sie ihm dunkel und bedrohlich. »Was hat der Zauber mit alldem zu tun?«

»Der Fluch war nicht vollständig. Ich werde ihn vollenden.«

Liam kaute auf seiner Unterlippe. In Momenten wie diesem fragte er sich, ob die Vivana, die neben ihm saß, noch dieselbe war, die er vor wenigen Wochen in Quindals Haus kennen gelernt hatte.

Sie schrieb die letzten Runen ab, klappte das Buch zu und legte es zusammen mit dem Pergament aufs Bett. »Lass uns nach Ruac sehen. Es wird Zeit, dass wir ihn füttern.«

Windböen rüttelten an der Zhila, während sie durch die Nacht glitt, ließen die Gondel des Luftschiffs vibrieren und knarzen. Liam hielt sich an einer Metallstrebe fest und blickte aus dem Bullauge der Kabine. Draußen herrschte vollkommene Dunkelheit, und er sah kein Meer, keine Wolken, keine Sterne – nur absolute, beinahe massive Schwärze. Manchmal leuchtete am Horizont ein Blitz auf.

Irgendwo dort vorn liegt Bradost. Falls es überhaupt noch existiert. Vielleicht haben die Dämonen es längst zerstört und alle Bewohner getötet.

Er rieb sich die Arme. Es war kühl geworden.

»Du bist so still.« Vivana trat neben ihn. »Ist alles in Ordnung mit dir?«

»Ich frage mich nur, ob dein Vater nicht doch Recht hatte. Fünf Luftschiffe sind wirklich verdammt wenig. Wenn wir es nicht schaffen, die Flotte von Bradost zu überraschen, wird sie uns in fünf Minuten vernichten.«

»Ich weiß. Aber was hätten wir denn tun sollen?«

»Was wir da vorhaben, ist Wahnsinn«, sagte Liam leise. »Wahrscheinlich sterben wir.«

Sie nahm ihn in die Arme und legte den Kopf in seine Halsbeuge. Er fühlte ihr Herz klopfen; sie hatte Angst, genau wie er. Plötzlich wirkte sie wieder so zerbrechlich wie am Abend des Phönixtages und gar nicht mehr wie die abgeklärte Manuschwahrsagerin, die das Erbe ihrer Vorfahren angetreten hatte.

»Wir sind erst in ein paar Stunden da«, sagte sie. »Die Nacht gehört uns.«

Sie führte ihn zum Bett. Nahm sein Gesicht in die Hände und küsste ihn. Im nächsten Moment lagen sie auf dem Schlaflager, sie kniete mit gespreizten Beinen auf ihm und küsste ihn erneut.

»Warte. Wenn jemand hereinkommt...«

»Die Tür ist abgeschlossen.«

Das Nächste, was geschah, war, dass Vivana die Knöpfe von Liams Hemd öffnete.

Und dann geschah noch ein bisschen mehr.

36

Land in Sicht

Irgendwann am frühen Morgen wachte Liam auf. Dämmerlicht fiel durch das Bullauge in die kleine Kabine. Vivana schlief noch. Ihr Kopf lag auf dem angewinkelten Arm; dunkle Haarsträhnen fielen ihr auf die Wange, den Hals, den Mund. Ihre nackten Füße schauten unter der Decke hervor.

Die Zeit schien stillzustehen, während Liam sie betrachtete.

Er hatte sich immer gefragt, wie sie sein würde, seine erste Nacht mit einem Mädchen. Man konnte nicht gerade behaupten, dass er dabei an ein Luftschiff, eine karge Passagierkabine mit verkratzten Wänden und eine muffig riechende Filzdecke gedachte hatte. Trotzdem war die letzte Nacht auf ihre Weise vollkommen gewesen. Er hatte sie mit Vivana verbracht, und das war alles, was zählte.

Trampelnde Schritte auf dem Korridor zerstörten die Stille. Einer der Aeronauten rief etwas und pochte im Vorbeilaufen gegen die Kabinentür.

Liam seufzte und stand auf. Während er in seine Hose schlüpfte, warf er einen Blick aus dem Bullauge.

Am Horizont war ein heller Streifen zu sehen. Die Küste von Bradost.

Die Ruhe, die ihn eben noch erfüllt hatte, war mit einem Schlag dahin. »Vivana, wach auf? Wir sind bald da.«

Verschlafen strich sie sich das Haar aus dem Gesicht. Sie reckte den Kopf, sah aus dem Fenster und war sofort hellwach.

»Sind andere Schiffe aufgetaucht?«

»Ich weiß es nicht. Lass uns nach vorne gehen.«

Rasch schlüpften sie in ihre Kleider. Vivana wandte ihm den Rücken zu, während sie ihre Hemdknöpfe schloss. Liam stand reglos da und betrachtete sie, betrachtete jede ihrer Bewegungen. Er dachte an ihre erste Begegnung in Quindals Haus, als sie wie aus dem Nichts erschienen war, ein Mädchen in einem bunten Rock und mit silbernen Spangen im Haar. Sie hatte ihn vom ersten Augenblick an verzaubert und tat es jeden Moment wieder.

»Können wir?«, fragte sie.

»Warte.« Er wollte ihr sagen, dass die letzte Nacht wundervoll gewesen war. Wundervoll? Was für ein dummes Wort. Doch auch alle anderen Worte erschienen ihm schal und lächerlich für das, was sie gemeinsam erlebt hatten.

Vivana legte ihm die Hand auf die Wange, berührte mit den Fingerkuppen seine Haut. Es war nur eine einfache Geste, aber sie zeigte ihm, dass er nichts erklären musste, dass sie verstand, was in ihm vorging, besser als er selbst.

Er küsste sie und lächelte. »Wir können.«

Kurz darauf standen sie auf der Brücke der Zhila, wo sich auch ein Großteil der Mannschaft eingefunden hatte. Der Kommandant beobachtete die Küste durch ein Fernrohr.