»Wir haben Glück«, sagte er. »Nur zwei Patrouillenschiffe. Wir greifen an, bevor sie Verstärkung bekommen.«
Er bellte Befehle. Die Aeronauten stürmten auf ihre Posten und machten die Zhila gefechtsklar.
Liams Herz begann heftig zu pochen. Dies war der Moment – der Moment, vor dem er sich seit Tagen fürchtete. Er ergriff Vivanas Hand und betrachtete nervös den hellen Küstenstreifen in der Ferne.
Die kleine Flotte änderte ihre Formation. Die Jaipin und die anderen Schiffe aus Suuraj flankierten die Zhila und näherten sich der Küste auf breiter Linie.
Einige Minuten später konnte Liam die beiden Patrouillenschiffe mit bloßem Auge erkennen. Sie schwebten etwa eine Meile vor den Steilklippen und standen bewegungslos in der Luft. So als warteten sie.
»Da stimmt doch was nicht«, sagte er. »Müssten sie nicht versuchen, vor uns zu fliehen?«
Plötzlich stiegen zwei dünne Streifen aus Rauch von den fremden Schiffen auf. Leuchtraketen. Die Geschosse zerplatzten am Himmel, zwei glühend weiße Sterne leuchteten auf und sanken langsam herab.
Der Kommandant riss ein Sprachrohr aus der Halterung und rief etwas hinein. Die Motoren heulten auf, als die Zhila beschleunigte.
»Festhalten«, befahl er Liam und Vivana. »Jetzt wird es brenzlig.«
Liam wurde klar, dass sie den Steuerleuten nur im Weg standen, wenn sie auf der Brücke blieben. Vivana und er zogen sich in den Korridor zurück, umklammerten die Handläufe und spähten an den Aeronauten vorbei aus dem Bugfenster.
Die Motoren liefen jetzt auf voller Kraft und ließen die Gondel vibrieren. Liam kämpfte um sein Gleichgewicht, denn während die Zhila beschleunigte, verließ sie außerdem ihre Fahrthöhe von dreitausend Fuß und sank so steil, wie es die Höhenruder zuließen. Er hörte das Zischen der Ventile, als die Maschinisten Aether aus den Traggaszellen abließen.
Der Kapitän rief einen weiteren Befehl in sein Sprachrohr. Liam wusste, dass in diesem Moment ein Aeronaut, der auf der Plattform oben auf der Hülle stand, das Kommando mit Flaggensignalen an die anderen Schiffe weitergab.
Die Flotte befand sich nun auf der gleichen Höhe wie die beiden Patrouillenschiffe. Wenn Liam den Kopf reckte, konnte er am äußersten rechten Rand des Fensters die Mündung des Rodis mit den Aetherküchen und dem Hafen sehen.
Endlich reagierten die feindlichen Luftschiffe. Schwerfällig setzten sie sich in Bewegung und fuhren Richtung Küste.
Fliehen sie?, fragte sich Liam verwirrt.
Als die Flotte von Suuraj nur noch eine Viertelmeile von ihnen entfernt war, gab der Kommandant den Befehl zum Angreifen. Geschütze auf der Plattform und in der Hüllenspitze spien knisternde Blitze, Schrotladungen und Kanonenkugeln. Ihr Rückstoß war so heftig, dass er das gesamte Schiff erschütterte. Auch die anderen Schiffe schossen mit Blitzwerfern und Drehbassen. Sie konzentrierten ihr Feuer auf das linke Patrouillenschiff, und Liam war, als verwandele sich der Himmel in ein Inferno aus Donner und Rauch.
Mehrere schwere Treffer zerfetzten die Hülle des feindlichen Schiffs, rissen riesige Löcher hinein, aus denen goldene Aetherschwaden strömten. Es kippte auf die Seite, unternahm einen letzten verzweifelten und aussichtslosen Versuch, beizudrehen – und stürzte ab.
Der Jubel der Mannschaft erfüllte die Zhila, und Liam bemerkte, dass auch er aus vollem Hals schrie.
»Wir schaffen es!«, rief er. »Wir schaffen es!«
Das andere Patrouillenschiff fuhr mit maximaler Schubkraft der Rodismündung entgegen. Die Flotte von Suuraj nahm die Verfolgung auf und feuerte dabei aus allen Rohren. Das fliehende Schiff war bereits zu weit weg, sodass die Blitze und Schrotladungen sie verfehlten. Die eleganten Schiffe aus Yaro D'ar waren jedoch eine Winzigkeit schneller und holten Schritt um Schritt auf.
Liam wagte kaum zu atmen. Er blickte flüchtig aus dem Seitenfenster und sah, dass die Jaipin begann, sich von der Flotte abzusetzen. Khoroj hatte offenbar begriffen, dass er die Gelegenheit nutzen musste, sobald der Weg nach Bradost frei war.
Noch eine gemeinschaftliche Salve brachte den Himmel zum Lodern. Die Heckspitze des Patrouillenschiffs wurde getroffen, doch das Loch in der Hülle war nicht groß genug, um seine Manövrierfähigkeit merklich zu mindern.
Es schoss noch eine Leuchtrakete ab.
»Schneller!«, murmelte Liam. »Fahrt schneller!«
Der Abstand zu dem fliehenden Schiff verringerte sich zunehmend. Die nächste Salve fetzte große Löcher in die Hülle, ein gut gezielter Blitz brannte einen langen Riss in die Außenhaut und schlitzte sie fast bis zur Schiffsmitte auf.
Der Jubel blieb Liam im Hals stecken.
Von den Aetherküchen näherten sich Luftschiffe.
Viele Luftschiffe.
Jeder auf der Brücke schien den Atem anzuhalten. Liam erblickte die Phönix, die die feindliche Flotte anführte. Seine Gedanken wirbelten wild durcheinander, als er die übrigen Schiffe zählte.
Siebzehn.
Siebzehn.
Das war nicht möglich. Seit dem ersten Leuchtsignal waren noch keine zehn Minuten vergangen. Niemand konnte in einer solch kurzen Zeit eine derartig große Flotte startklar machen. Dafür waren hunderte von Leuten nötig, Bodenpersonal, Haltemannschaften, ganz zu schweigen von den Aeronauten, die zusammengetrommelt werden mussten.
Unmöglich, dachte Liam noch einmal.
Es sei denn...
»Sie haben auf uns gewartet«, flüsterte er.
37
Rache auf Harpyienart
Der Morgen war trüb und kalt und passte ausgezeichnet zu Umbras Stimmung. Novembernebel kroch durch die Gassen von Scotia und wallte um die windschiefen Dächer. Der Hügel, den sie hinaufstieg, ragte daraus hervor wie eine Insel aus einem dunstigen Tümpel. Ein gusseiserner Zaun umgab den Friedhof, umrankt von Kletterpflanzen und verwildertem Brombeergestrüpp. Das Tor quietschte, als sie es öffnete.
Es war ein verlassenes Grundstück, wie es so viele in Scotia gab, vergessen von den Bewohnern des Viertels, obwohl sie Tag für Tag daran vorbeigingen. Efeu und Unkraut überwucherten die Gräber. Ein Weg aus geborstenen Steinplatten, bedeckt von fauligem Laub, führte zur Kirche.
Die Fenster des Gotteshauses waren vernagelt. Tauben nisteten im Dachgebälk. Das Querschiff war teilweise eingestürzt, ebenso der Altarraum. Lediglich der Glockenturm schien einigermaßen intakt zu sein. Umbra blickte zur Turmspitze auf und wusste plötzlich, wo sie Mama Ogda finden würde. Harpyien liebten hochgelegene Orte.
Sie machte einen Schritt über eine zerbrochene Tessarionstatue und stieg die Stufen zum Kirchenportal hinauf. Ein Türflügel stand ein Stück offen. Vorsichtig schob sie sich durch den Spalt.
Modergeruch umfing sie. Haufen aus Schutt, zersplitterte Dachschindeln und vom Wind hereingewehte Blätter bedeckten den Granitboden. Das Kirchengestühl stand kreuz und quer zwischen den Säulen und war weitgehend zerstört, so als hätte jemand die Bänke mutwillig mit einer Axt zerschlagen.
Während Umbra wachsam den Saal durchquerte, suchte sie den Boden nach Spuren ab. Nichts. Kein Geräusch störte die Stille dieses Ortes. Sogar die Laute der erwachenden Stadt waren im Zwielicht des Kirchenschiffs kaum zu hören.
Sie fand den Zugang zum Turm und zögerte. Nein, kein Schattentor. Sie wusste nicht, was sie dort oben erwartete.
So leise, wie es die verrosteten Angeln zuließen, öffnete sie die Pforte, erklomm die enge Wendeltreppe und gelangte in den Glockenstuhl. Taubendreck klebte auf den morschen Balken. Die Glocken waren fort, vermutlich gestohlen. Zinn und Bronze waren begehrte Werkstoffe in den Handwerksstuben des Viertels.