Umbra kletterte eine Leiter hinauf, deren Sprossen bedenklich knarrten, und versetzte der Dachluke einen Stoß. Die verzogene Holzklappe flog auf, und Umbra blickte in eine Kammer im Gebälk der Turmspitze.
Meckerndes Lachen tönte aus den Schatten.
Umbra zwängte sich durch die Öffnung. Die Dachkammer war so niedrig, dass sie den Kopf einziehen musste. Durch ein winziges Bleiglasfenster mit milchigen Scheiben fiel Licht auf Kisten voller Phiolen und Fläschchen mit schillerndem Inhalt. Neben einem Tischchen mit Teegeschirr kauerte Mama Ogda krötengleich auf einem Lager aus Kissen, saugte an einer Wasserpfeife und blies einen formvollendeten Rauchring. Sie wirkte nicht im Mindesten überrascht.
»Ich dachte mir schon, dass du irgendwann hier auftauchen würdest. Jackon hat dir also gesagt, was wirklich passiert ist.« Ihre Äuglein funkelten. »Du wirst verstehen, dass ich dich nicht in meinem Laden empfangen konnte. Ich musste davon ausgehen, dass deine Herrin erfährt, was der Junge erzählt hat. Du weißt ja, wie sie ist. Wer ihr auf die Schliche kommt, bekommt schon in der nächsten Nacht Besuch von ihren Mördern. Sag mir, wie hat sie es aufgenommen, als du sie gefragt hast, ob sie hinter dem Massaker an deiner Familie steckt? Hat sie alles abgestritten? Es als böswillige Verschwörung abgetan? Hat sie behauptet, man wolle dich nur gegen sie aufbringen?«
Umbras Wut vergrößerte ihre Kräfte noch. Blitzschnell wuchs ihr Schatten, zwei rauchartige Arme schossen vor und umschlangen Mama Ogda. Die Harpyie strampelte und stieß die Wasserpfeife und das Tischchen um, als Umbra sie hochhob.
»Du sagst mir jetzt genau, was Jackon gesehen hat, oder ich töte dich.«
»Lass mich runter«, krächzte Mama Ogda. »Du bekommst alles, was du willst!«
Umbra ließ von ihr ab, und sie plumpste wie ein Beutel voller Schweinespeck auf die Kissen.
»Immer musst du so grob sein«, zischte die Harpyie, während sie sich aufrappelte. »Hättest du mich damals im Rattennest anständig behandelt, wärst du nie in diese Lage gekommen. Ich hätte dir vielleicht sogar geholfen. Starr mich nicht so böse an. Dass es dir so dreckig geht, hast du dir selbst zuzuschreiben.«
Sie schlurfte zu ihren Kisten. »Du kannst von Glück sagen, dass ich nicht so sorglos gewesen bin, eine solch wichtige Erinnerung aus der Hand zu geben, ohne mich abzusichern. Ich habe sie schon vor Jahren dupliziert.« Mama Ogda holte eine Rauchglasphiole hervor und blickte Umbra verschlagen an. »Wenn du willst, kannst du sehen, was Jackon gesehen hat.«
»Wer sagt mir, dass das keine gefälschte Erinnerung ist?«, fragte Umbra schroff.
»Ich hatte meine Rache. Ich habe kein Interesse daran, dir zu schaden. Aber wenn du mir nicht glaubst, stecke ich die Phiole eben wieder in die Kiste, es ist ja auch nicht so wichtig...«
Umbra riss ihr das Fläschchen aus den Krallenfingern, entfernte den Korken und trank den Inhalt in einem Zug.
»Durch das Duplizieren ist die Erinnerung stark verdünnt«, sagte Mama Ogda. »Aber wenn du dich konzentrierst, solltest du im Stande sein, alles zu erkennen.«
Schwindel überkam Umbra. Wenn dies eine verdünnte Erinnerung war, wollte sie nicht wissen, wie sich eine hochkonzentrierte anfühlte. Sie hielt sich an einem Dachbalken fest, doch als die fremden Sinneseindrücke immer heftiger auf sie einströmten, musste sie sich setzen.
Ihr war, als stecke ihr Bewusstsein in einem anderen Körper. Ihr Gefühl sagte ihr, dass die Person, aus deren Augen sie blickte und deren Erinnerungen sie miterlebte, kein Mensch war. Bei allen Dämonen, ich bin ein Schattenwesen!
Sie stand in einer Bibliothek, und nach wenigen Sekunden wurde ihr klar, dass es sich um die Bibliothek des Palastes handelte. Lady Sarka war da und redete mit ihr. Umbra konnte die Worte nicht verstehen, aber Lady Sarkas Lippen formten eindeutig die Silben Ma-lu-mo.
Die Erinnerung verschwamm wie eine trügerische Luftspiegelung in der Sommerhitze. Als die Bilder wieder klarer wurden, schritt Umbra durch die Gassen des Rattennests – durch ein älteres Rattennest. Die mächtigen Sklavenhallen hatten sich noch nicht in die Schrottpaläste der Lumpenbarone verwandelt, und nirgendwo ließen sich Soldaten der Stadtmiliz blicken. Es war das Rattennest der Clans, das Viertel von Umbras Vergangenheit.
Sie hielt den Atem an, als das Schattenwesen zu dem Hotel an der Stirnseite des großen Platzes ging, das Heim der Malumos – Umbras Zuhause. Es sah genauso aus wie in ihren Erinnerungen: sauber, prächtig, Ehrfurcht gebietend, ohne Spuren des Feuers, das es zerstört hatte. Der Anblick riss alte Wunden auf, und der Schmerz, der sie durchzuckte, war so intensiv, dass sie sich wünschte, das Schattenwesen würde weitergehen. Doch es blieb in einem dunklen Winkel stehen, beohachtete das Tor des Hotels und wartete.
Irgendwann trat ein junger Mann heraus.
»Lumisco«, flüsterte Umbra mit vor Trauer erstickter Stimme.
Ihr Cousin schlenderte über den Platz, rief den fliegenden Händlern fröhliche Grüße zu und stapfte mit einem Lächeln auf den Lippen durch die Menge. Das Schattenwesen blickte ihm nach, und Umbra spürte, wie es sich Lumisco genau einprägte, sein Gesicht, seine Körperhaltung, seine Art zu gehen.
Eine neue Erinnerung löste die vorherige ab. Das Schattenwesen stand vor einem Spiegel, und Umbra erblickte ein unauffälliges Männergesicht mit Bartstoppeln, einem Hemdkragen und kurzem, strähnigem Haar. Dann veränderte das Schattenwesen sein Aussehen so lange, bis es Lumisco aufs Haar glich.
Ein Doppelgänger!, durchfuhr es Umbra, ehe ihr ein anderer, verwirrender Gedanke kam: Er hat Lady Sarka gedient. Was ist aus dem Geschöpf geworden? Und wieso hat sie ihn nicht erwähnt, als sie mich damit beauftragt hat, einen neuen Doppelgänger für sie zu finden?
Abermals veränderte sich die Erinnerung. Der Doppelgänger eilte durch halbdunkle Flure. Fackellicht flackerte in den Durchgängen. Umbra hörte fernes Geschrei. Eine Gestalt tauchte aus dem Zwielicht auf. Der Doppelgänger schoss auf sie, und als sie mit zerfetztem Bauch zu Boden ging, erkannte Umbra Balthus Dyne, den ältesten Sohn von Elder Dyne und genau wie sein Vater und alle anderen Dynes ein Todfeind der Familie Malumo. Der Doppelgänger rannte weiter, warf die Pistole fort und zückte einen Dolch, mit dem er zwei weitere Dynes niederstach, bevor er von einer Pistolenkugel getroffen wurde und voller Schmerzen aus einem Fenster sprang.
Hier endete die destillierte Erinnerung.
Umbra wachte aus der Trance auf. Sie lag auf dem Boden und blickte zum morschen Dachgebälk auf. Tränen rannen ihr über das Gesicht.
Jackon hatte Recht – Lady Sarka steckt dahinter. Sie ist schuld daran, dass alle umgebracht wurden, Vater, Onkel Degory, Lumisco und die anderen.
Diese Hure.
Es war so simpel, so offensichtlich, dass sie sich fragte, warum sie nicht längst von selbst darauf gekommen war. Im ersten Jahr ihrer Herrschaft waren die mächtigen und einflussreichen Clans der Grambeuge Lady Sarka ein Dorn im Auge. Sie wollte sie loswerden – und was wäre einfacher, als dafür zu sorgen, dass sie sich gegenseitig auslöschten? Mithilfe des Doppelgängers ließ sie die Dynes glauben, Umbras Cousin Lumisco hätte nachts ihr Haus überfallen, wohl wissend, dass die Dynes für diesen Anschlag blutige Vergeltung üben würden. Und genauso kam es. Die Dynes vernichteten die Malumos, waren von den Kämpfen jedoch so stark geschwächt, dass die Geheimpolizei nur noch die Überreste zusammenfegen musste. Obendrein hatte das den nützlichen Nebeneffekt, dass Lady Sarka sich vor Umbra, die sie zuvor vergeblich versucht hatte anzuwerben, als Lebensretterin darstellen konnte, in der Hoffnung, dass Umbra zum Dank in ihre Dienste treten würde. Was Umbra auch prompt getan hatte. Ein perfider Plan. Und ich bin darauf reingefallen.