Umbra bekam kaum noch Luft; sie war unfähig, sich zu bewegen. Wieder und wieder sah sie die Nacht des Massakers vor sich, spürte die Hitze des Feuers, hörte die Schreie ihrer Familie.
»Was hast du damit zu tun?«, brachte sie leise hervor.
»Gar nichts«, antwortete Mama Ogda, die wieder ihre Wasserpfeife rauchte. »Ich habe in jener Nacht gesehen, was passiert ist, schließlich befanden sich euer Hotel und das Haus der Dynes ganz in der Nähe meines Ladens. Ich habe mitbekommen, dass die Dynes überfallen wurden. Der Attentäter sah zwar auf den ersten Blick aus wie dein Cousin, aber als er verletzt geflohen ist, habe ich sofort erkannt, dass er in Wahrheit ein Doppelgänger ist. Das hat mich neugierig gemacht. Ich bin ihm zum Flussufer gefolgt, wo er wenig später an seinen Verletzungen starb. Kurz vor seinem Tod habe ich seine Erinnerungen extrahiert – der Vorfall erschien mir interessant genug, ihn für die Nachwelt zu erhalten. Als ich mir die Erinnerung zuhause ansah und feststellte, dass hinter dem Attentat eine hübsche kleine Verschwörung steckt, dachte ich mir: Mama Ogda, was du da in den Händen hältst, ist ein Schatz, für den dir Lady Sarka womöglich ein nettes Sümmchen bezahlt, damit ich ihn nicht ihren Feinden zuspiele. Leider ist es anders gekommen. Deine Herrin hat kurz darauf die Clans des Rattennests vernichtet, und die Erinnerung war wertlos geworden. Ich hatte keine Verwendung mehr dafür und vergaß sie – und würde mich vermutlich immer noch nicht daran erinnern, wenn du nicht vier Jahre später in meinen Laden gekommen wärst und nach Silas Torne gefragt hättest.«
»Von wem hatte sie den Doppelgänger?«, fragte Umbra mit schwacher Stimme.
Die Harpyie grinste listig. »Das ist die Frage, nicht wahr? Warum lässt sie ausgerechnet Silas nach einem Doppelgänger suchen, obwohl sie doch schon einmal einen besessen hatte?
Ja, ich weiß, warum du Silas geholt hast – ich habe euch zugehört, als du bei ihm in meinem Keller warst. Keine Ahnung, wer ihr damals den Doppelgänger beschafft hat. Vermutlich ein armer Teufel, den sie anschließend umbringen ließ, damit er sich nicht verplappern kann. Dumm von ihr, wenn du mich fragst. Hätte sie ihn am Leben gelassen, hätte sie sich später nicht mit Silas herumärgern müssen. Wie ich Silas kenne, hat er gar nicht versucht, ihr zu helfen, sondern hat sie von vorne bis hinten betrogen.«
Umbra fühlte sich getäuscht, erniedrigt, gedemütigt. An Lady Sarkas Händen klebte das Blut ihrer Familie. Und dafür habe ich ihr Treue geschworen, sie geliebt, sie mit meinem Leben beschützt.
Ein Zorn, wie sie ihn noch nie erlebt hatte, stieg in ihr auf, gab ihr die Kraft, sich zu erheben, in einem Winkel des Dachstuhls ein Schattentor zu öffnen. Sie trat hindurch.
Das Letzte, was sie hörte, war Mama Ogdas meckerndes Lachen.
Im Kuppelsaal des Palastes standen Lady Sarka, Corvas und Amander.
»Gut, dass du da bist«, begrüßte die Lady sie. »Wir werden angegriffen.«
Umbra hörte die Worte kaum. Sie ließ ihren Schatten wachsen, griff nach der Herrin, versuchte ihren Hals zu umschlingen.
Corvas packte sie schmerzhaft am Arm. »Hast du den Verstand verloren?«
Sie stieß ihn weg, fesselte ihn mit seinem eigenen Schatten und hob Lady Sarka in die Luft.
»Haltet diese Wahnsinnige auf, ihr Narren!«, schrie die Lordkanzlerin. »Tötet sie, verdammt noch mal!«
Umbra spürte einen scharfen Schmerz am Arm. Sie ließ Lady Sarka los, wirbelte herum und sah, dass Corvas sich befreit und seine Messer gezogen hatte. Amander legte mit der Pistole auf sie an. Mit einem Sprung rettete sie sich hinter eine Säule, bevor der Schuss durch den Saal peitschte und Splitter aus dem Pfeiler schlug.
Sie öffnete ein Schattentor und schob sich hindurch. Irgendwo außerhalb des Palastes, in einer Gasse der Altstadt, trat sie ins Tageslicht, sank auf das Kopfsteinpflaster. Weinte und fluchte, fluchte und weinte.
Am Himmel donnerten die Kanonen.
38
Inferno
»Ich habe es euch gesagt!«, rief Quindal mit überschlagender Stimme. »Aber ihr wolltet ja nicht hören.«
»Daran können wir jetzt nichts mehr ändern.« Khoroj drückte voller Konzentration am Steuerpult der Jaipin Knöpfe und betätigte Schalter. »Sehen wir lieber zu, dass wir uns an den Plan halten.«
»Es sind zu viele. Wir werden sterben.«
»Werden wir nicht. Jetzt setz dich hin und sei still.«
Quindal ließ sich in einen der Sessel auf der Brücke fallen. Jackon, der neben dem Erfinder saß, klammerte sich an den Armlehnen fest und beobachtete voller Entsetzen den Schwarm aus Luftschiffen, der sich ihnen von der Küste näherte. Die gewaltige Phönix war etwas zurückgefallen, wie das Leittier eines Wolfsrudels, das geduldig abwartete, während sich seine jüngeren Artgenossen auf die Beute stürzten. Kleinere Luftschiffe zogen an der fliegenden Vernichtungsmaschine vorbei und näherten sich der Flotte von Suuraj in breiter Formation. Aeronauten auf den Plattformen oben auf den Hüllen machten Geschütze und Blitzwerfer gefechtsklar.
Jackon verstand nichts von Luftkämpfen, doch angesichts der ungleichen Kräfteverhältnisse zweifelte er nicht daran, wie die Schlacht ausgehen würde. Auf ein Luftschiff von uns kommen drei von denen. Wir haben keine Chance.
Er blickte zur Zhila und hoffte, in den Fenstern Liam und Vivana zu sehen, aber natürlich war das Flaggschiff viel zu weit weg, um Einzelheiten zu erkennen. Er hatte schreckliche Angst um seine Freunde, mehr noch als um sein eigenes Lehen. Während die Jaipin aufgrund ihrer Entfernung zum Rest der Flotte noch würde fliehen können, befand sich die Zhila im Zentrum der bevorstehenden Schlacht. Nicht mehr lange, und sie würde den Angriffen der feindlichen Armada ausgesetzt sein.
Bitte passt auf euch auf, betete Jackon.
Er zuckte zusammen, als das Feuer begann.
Die Schiffe von Bradost hielten sich nicht damit auf, die Flotte von Suuraj mit Flaggen- oder Lichtsignalen zum Umkehren aufzufordern oder Warnschüsse abzugeben – sie feuerten sofort aus allen Rohren, sowie die Südländer in die Reichweite ihrer Geschütze kamen. Binnen weniger Herzschläge füllte sich der Himmel mit Rauch, Donner, dem Fauchen von Kanonenkugeln und dem Knistern der Blitze. Die Zhila und die anderen Luftschiffe aus Yaro D'ar taten das in ihrer Lage einzig Richtige: Sie lösten ihre Formation auf und machten sich ihre überlegene Wendigkeit zu Nutze, indem sie feindliche Zeppeline in Nahkämpfe verwickelten, damit diese riskierten, befreundete Schiffe zu treffen, und so ihre zahlenmäßige Überlegenheit nicht voll zur Geltung bringen konnten.
Vorod Khoroj ergriff im Chaos der Schlacht ihre einzige Chance. Er umfuhr die Kämpfe in einem weiten Bogen, in der Hoffnung, unbemerkt zur Stadt zu gelangen.
Jackon wurde beinahe aus dem Sessel geschleudert, als der Südländer mit vollem Schub beschleunigte und gleichzeitig eine enge Kurve fuhr. Sekunden später verlief die Flugbahn wieder gerade, und die Jaipin schoss auf die Küste zu.
Leider hatte Khoroj die Rechnung ohne die Phönix gemacht. Die anderen Schiffe der Flotte mochten abgelenkt sein, das Flaggschiff von Bradost jedoch beobachtete die Kämpfe nur, ohne sich daran zu beteiligen. Koner Maer, ihr Kommandant, musste die Jaipin bemerkt haben, denn in diesem Moment lösten sich zwei kleinere Schiffe von der Phönix und kamen auf sie zu.