»Vivana!«, rief Liam.
»Ich habe es gesehen. Ruac hält das nicht lange durch. Wir müssen landen.«
Die fünf Verschlinger umkreisten sie in sicherer Entfernung. Offenbar hatten sie begriffen, dass Ruac so gut wie besiegt war, und wollten sich nicht in unnötige Gefahr begeben, indem sie ihn noch einmal attackierten.
Ruac selbst war zu schwach und zu langsam, um zum Gegenangriff überzugehen; es kostete ihn all seine Kraft, in der Luft zu bleiben und nicht abzustürzen. Trotzdem sanken sie unaufhaltsam dem Erdboden entgegen.
Mit schreckgeweiteten Augen betrachtete Liam die Ruinen, über die sie hinwegflogen. Nichts als Trümmer und Asche. Nirgendwo waren Menschen zu sehen. Am Ende einer Gasse erblickte er eine Barriere aus Sandsäcken und Stacheldraht und dahinter Soldaten.
»Versuch, in der Altstadt zu landen!«, brüllte er. »Im Kessel sitzen wir in der Falle.«
Das Rauschen des Windes, Ruacs Gebrüll und das Krächzen der Verschlinger waren so laut, dass er nicht sagen konnte, ob Vivana ihn gehört hatte.
Das Blut aus Ruacs Wunde glich einen dünnen Schweif aus Sprühnebel.
Dächer rasten unter ihnen dahin, Schutthaufen, rußgeschwärzte Mauern, manchmal so dicht, dass Liam fürchtete, sie würden sie rammen. Die Kupferstraße kam in Sicht – sie lag außerhalb der Straßensperren und verhieß Sicherheit vor den Dämonen.
Noch fünfzig Schritt.
Vierzig.
Wir schaffen es nicht, dachte Liam panisch. Er konnte spüren, dass Ruac Höllenqualen litt. Der Lindwurm steuerte eine Straße an, die weitgehend frei von Trümmern und anderen Hindernissen war, legte die Flügel an – und landete.
Es war keine elegante Landung. Sie schlitterten über das Kopfsteinpflaster, Ruac suchte erfolglos mit den Krallen nach Halt, drehte sich und schoss auf eine niedrige Mauer zu. Keinen halben Herzschlag vor dem Zusammenprall riss Liam Vivana vom Rücken des Lindwurms. Hart schlugen sie auf der Straße auf und rollten über den Boden.
Dumpfer Schmerz füllte Liams Schädel aus, überlagerte alle Gedanken – bis auf einen: Er durfte nicht liegen bleiben. Wenn er liegen blieb, holten ihn die Dämonen. Taumelnd richtete er sich auf Vivana lag neben ihm, stöhnte.
»Du musst aufstehen.«
Als sie nicht reagierte, schob er die Hände unter ihre Achseln, zog sie hoch. Langsam kam sie zu sich.
»Bist du verletzt?«
Sie gab keine Antwort, blinzelte nur. Dann fuhr sie herum. »Ruac!«
Sie wankte zu dem Lindwurm, der benommen vor der Mauer lag. Die Wunde an seinem Flügel blutete stärker.
Liam hob den Kopf. Die Verschlinger kreisten über ihnen und krähten angriffslustig. »Wir müssen fort, zu der Straßensperre da vorn.«
»Aber da sind Soldaten!«
»Willst du lieber den Dämonen in die Hände fallen?«
Sie gingen los. Humpelnd kroch Ruac neben ihnen her. Offenbar hatte er sich auch den rechten Fuß verletzt.
Liam blickte zum Ende der Gasse, sah jedoch nur ausgebrannte Ruinen, keine Straßensperre. Sie waren nicht dort, wo er gedacht hatte. Er musste bei der Landung die Orientierung verloren haben.
»Wo müssen wir hin?«, fragte Vivana.
»Da lang, glaube ich.«
Als er sich gerade in Bewegung setzen wollte, landeten die Verschlinger auf den umliegenden Dächern und Ruinen, bereit herabzustoßen, wenn sie auch nur einen Schritt wagten.
Liam griff zu seinem Messer. Er wusste, dass sie keine Chance gegen die Riesenvögel hatten, trotzdem war er entschlossen zu kämpfen. Er würde lieber sterben, als sich noch einmal Dämonen auszuliefern.
Vivana griff nach einem Stein, umschloss ihn fest mit den Fingern. Ruac öffnete sein Maul und fauchte mit letzter Kraft.
Fratzen erschienen zwischen den Ruinen, Hundsköpfe und gehörnte Schädel. Dämonen krochen aus Öffnungen und Löchern und kreisten sie ein.
39
Der Absturz
Jackon wurde in seinem Sessel hin- und hergeworfen, als Khoroj die Jaipin in einem halsbrecherischen Zickzack-Kurs über die Ruinen des Kessels steuerte. Jedes Mal, wenn die Kanonen der Phönix donnerten oder hinter ihnen das grellweiße Licht eines Blitzes aufflackerte, erwartete er, ein Treffer würde die Gondel aufreißen oder das kleine Luftschiff so schwer beschädigen, dass sie in den Tod stürzten.
Er klammerte sich an den Armlehnen fest und machte sich so klein wie möglich. Am schlimmsten war, dass er nichts unternehmen konnte, um sich zu schützen. Seine Gefährten und er saßen in der zerbrechlichen Gondel gefangen, dem Zufall ausgeliefert, und konnten nur beten, dass sie irgendwie mit heiler Haut davonkamen.
»Wir verlieren zu viel Aether«, sagte Khoroj gepresst. »Lange können wir uns nicht mehr in der Luft halten.«
»In ein oder zwei Minuten sind wir über der Altstadt«, erwiderte Quindal. »Dann kannst du uns runterbringen.«
»Und wie? Die Phönix wird uns zermalmen, wenn ich das Tempo verringere.«
Der Südländer sagte noch etwas, doch es wurde von lautem Krachen übertönt. Jackon zuckte zusammen. Ein Treffer! Die Jaipin sackte einige Schritt nach unten, als wäre sie in ein Luftloch gefallen. Offenbar hatten sie eine weitere Traggaszelle verloren.
Einer der Leibwächter stürzte herein und redete hektisch auf Khoroj ein.
»Was sagt er?«, wollte Quindal wissen.
»Liam und Vivana folgen uns – sie reiten auf Ruac.« Khoroj stierte geradeaus und hielt das Steuer mit beiden Händen fest. »Offenbar versuchen sie, uns zu helfen. Aber sie scheinen in Schwierigkeiten zu sein.«
Wie auf Kommando öffneten Jackon, Quindal und Lucien ihre Sicherheitsgurte und stürzten in den Korridor.
»Hiergeblieben!«, rief Khoroj. »Da hinten ist es zu gefährlich!«
Weder Jackon noch Quindal oder Lucien hörten auf ihn. So schnell es in der schwankenden Gondel möglich war, hasteten sie zum Heck.
Der Aufenthaltsraum war völlig verwüstet. Die Scheiben waren zersprungen, überall lagen Glassplitter und Schrotkugeln. Ein Blitz hatte Wände und Möbel versengt.
Das Rauschen des Fahrtwindes vereinte sich mit dem Dröhnen der Motoren zu einem einzigen Getöse. Die silberne Bugspitze der Phönix füllte einen großen Teil des Himmels aus, umweht von den goldenen Aetherschwaden, die aus der Hülle der Jaipin drangen. Das gewaltige Luftschiff war so dicht hinter ihnen, dass Jackon die Kanoniere oben auf der Hülle sehen konnte. Sie luden die Geschütze nach.
Er hielt sich an Tischen und Bänken fest, während er sich zum Fenster vorkämpfte. Es dauerte nicht lange, bis er Ruac entdeckte: Der Lindwurm mit Liam und Vivana auf seinem Rücken flog schräg unter der Phönix, nur wenige Schritt über den Dächern. Mehrere schwarze Schemen hatten sie eingekreist.
Dämonen!, dachte Jackon voller Grauen.
Eisiger Wind zerzauste sein Haar, als er sich am Fensterrahmen festklammerte und nach vorne beugte.
»Ruac ist verletzt!«, schrie er. »Sie stürzen ab!«
Lucien packte ihn an den Schultern und zog ihn zurück.
»Sieh doch!« Jackon riss sich los. »Wir müssen ihnen helfen!«
»Wir können nichts für sie tun. Jetzt bleib hier, oder willst du dich zu Tode stürzen?«
Schweigend standen sie an dem zerschmetterten Fenster und schauten dabei zu, wie Ruac von den Dämonen über die Dächer gejagt wurde. Als der Lindwurm unbeholfen in einer Gasse landete und auf eine Mauer zuschlitterte, murmelte Quindal einen lautlosen Fluch.
Im nächsten Moment verschwanden Ruac, Liam und Vivana hinter rußgeschwärzten Gemäuern.
Das Donnern einer Kanone erinnerte Jackon daran, dass auch sie sich immer noch in tödlicher Gefahr befanden. Mündungsfeuer schoss aus dem Buggeschütz der Phönix, Holz barst, Splitter flogen umher. Jackon taumelte zurück und fiel hin. Keine zwei Schritt von ihm entfernt war ein Loch in der Gondelwand aufgerissen, so groß wie der Tisch.