Kurz darauf eilten sie durch die Altstadt. Zu Jackons Überraschung begegnete ihnen kaum eine Menschenseele, obwohl sich um diese Zeit normalerweise die Gassen mit Leuten füllten, die ihren Geschäften und ihrer Arbeit nachgingen. Offenbar wagten sich die Menschen seit dem Auftauchen der Dämonen nicht mehr auf die Straße. Die wenigen, die sich außerhalb der eigenen vier Wände aufhielten, versammelten sich auf den Dächern und beobachteten die Luftschlacht vor der Küste.
Es war nicht weit bis zur Kupferstraße, die die Altstadt vom Kessel trennte. Jackon und Lucien verbargen sich hinter einer Hausecke und beobachteten die Gassen, die von der breiten Allee zum Industrieviertel führten. Jede war mit einer bewachten Straßensperre abgeriegelt.
»Was machen wir jetzt?«, fragte Jackon. »Wenn die Soldaten uns sehen, verhaften sie uns.«
»Wir gehen durch die Katakomben. Vielleicht haben wir Glück und finden einen Tunnel, der beim Erdbeben nicht eingestürzt ist. Siehst du die Weberei da drüben? In ihrem Keller gab es früher einen Zugang.«
Sie rannten über die Straße. Von Norden kamen mehrere Soldaten anmarschiert. Rasch schlüpften sie in das Hoftor der Manufaktur und versteckten sich hinter einem Stapel Kisten, bis der Trupp verschwunden war.
Jackon sah sich um. Die Weberei schien menschenleer zu sein. Im Hof herrschte ein heilloses Durcheinander aus Karren, vom Regen durchweichten Tuchballen und Werkzeug. Offenbar hatten die Arbeiter alles stehen und liegen gelassen, als die Dämonen gekommen waren.
Plötzlich trat eine Gestalt aus den Schatten.
»Umbra«, hauchte Jackon fassungslos.
»Großartig. Die hat uns gerade noch gefehlt.« Lucien zog sein Messer.
Umbra hob die Arme, als wollte sie sich ergeben, und kam langsam näher. »Ich will euch nichts tun. Lasst uns reden.«
»Bleib, wo du bist«, verlangte Lucien barsch und hielt sein Messer so, dass er es jederzeit werfen konnte.
Jackon bemerkte, dass Umbra verletzt war. Sie konnte den linken Arm nicht so hoch heben wie den rechten, und ihr Wams war oberhalb des Ellbogens blutgetränkt. »Warte. Ich glaube nicht, dass sie uns schaden will.«
»Oh, das glaube ich aber doch«, knurrte Lucien.
Jackon spähte über den Kistenstapel. Umbra war stehen geblieben und presste eine Hand auf die Armwunde. »Wieso bist du hier?«
»Ich habe gesehen, was passiert ist. Deine Freunde, die von Dämonen gefangen genommen wurden. Euer Absturz mit dem Luftschiff. Ich will euch helfen.«
»Liam und Vivana wurden von Dämonen gefangen genommen?«, fragte Jackon entsetzt.
»Sie bringen sie gerade zum Magistratspalast«, antwortete Umbra. »Wenn wir sie retten wollen, müssen wir uns beeilen.«
»Riecht mir verdammt nach einer Falle, wenn du mich fragst«, bemerkte Lucien.
»Nein. Keine Falle. Ihr habt mein Wort.«
Insgeheim war Jackon überglücklich, Umbra wiederzusehen. Seit ihrer Flucht aus Bradost hatte er sich das gewünscht. Doch er durfte sich jetzt nicht von seinen Gefühlen leiten lassen – dafür war die Sache zu gefährlich. »Warum willst du uns helfen? Wir sind deine Feinde.«
»Ich will, dass ihr Lady Sarka zur Strecke bringt.«
Jackon jubelte innerlich. »Du hast herausgefunden, dass es stimmt, was ich gesagt habe, richtig? Die Sache mit dem Mord an deiner Familie und dass Lady Sarka dahintersteckt.«
»Du hattest Recht. Mit allem.«
»Heißt das, du stehst jetzt auf unserer Seite?«
»Sieht ganz so aus, oder?«
Jackon konnte nicht anders, als zu ihr zu laufen, obwohl Lucien ihm wütend befahl dazubleiben. Er stürmte über den Hof und umarmte sie, lachend und weinend zugleich.
»Na na«, sagte Umbra steif »Kein Grund, gleich loszuflennen, du Muttersöhnchen.«
Jackon hörte Lucien derb fluchen und wandte sich zu ihm um. »Jetzt komm schon her. Du hast doch gehört, was sie gesagt hat.«
Der Alb streckte den Kopf hinter dem Kistenstapel hervor und blickte ihn und Umbra finster an. »Sie war eine Dienerin von Lady Sarka und wird es immer bleiben. Ich kann nicht glauben, dass du auf ihre Lügen hereinfällst.«
»Lass ihn reden«, meinte Umbra. »Ich schlage vor, wir holen jetzt deine Freunde, in Ordnung?«
»Warte hier auf uns«, rief Jackon Lucien zu, bevor er ganz wie in alten Zeiten mit Umbra durch das Schattentor trat.
40
Der Dämonenfürst
Liam war innerlich wie erstarrt, sodass er den Peitschenhieb kaum spürte. Er zuckte zusammen, als der Lederriemen auf seinen Rücken klatschte, und stolperte weiter den Weg entlang, flankiert von zwei Kobolden auf schwarzen Reitkäfern, die immerzu kicherten und ihn mit ihren Speeren bedrohten. Der hyänenköpfige Dämon hinter ihm grunzte. Sein Atem stank nach Verwesung.
Es war keine gewöhnliche Furcht, die Liam gepackt hatte, sondern ein allumfassendes Entsetzen, das wie schwarzes Gift jeden Winkel seiner Seele ausfüllte und seinen Verstand zersetzte. Er hatte gedacht, er wäre den Schrecken des Pandæmoniums entronnen, hätte den Dämon, der seinen Körper gestohlen hatte, besiegt, doch nun holte ihn das Grauen wieder ein, mitten in Bradost, mitten in seiner Heimat. Und er konnte nichts dagegen tun.
Der Trupp bestand aus mehr als zwanzig Ungeheuern – viel zu viele, um gegen sie zu kämpfen oder die Flucht zu wagen. Sie hatten Liam und Vivana in die Mitte genommen und zirpten vergnügt, während sie ihre Gefangenen vorwärtsstießen, die Straße zwischen den verlassenen Manufakturen entlang. Ruac hatten sie einen Strick um den Hals gebunden; zwei Kynokephalen zogen ihn, ein dritter schlug mit einer siebenschwänzigen Peitsche auf ihn ein. Der Lindwurm wehrte sich nicht. Er war so schwach, dass er kaum noch kriechen konnte.
Liam wusste, was ihnen bevorstand. Sie bringen uns zu ihrem Anführer. Dort werden sie uns foltern, und dann übernehmen sie meinen Körper – und ihren auch, dachte er mit Blick auf Vivana, und das Grauen umschloss sein Herz wie eine Knochenhand.
»O Gott, Liam, sieh mal«, flüsterte sie.
Wie in Trance hob er den Kopf. Erst jetzt bemerkte er, dass die Dämonen sie zum Magistratspalast gebracht hatten – aber es war nicht der Magistratspalast, den er kannte.
Eine graue Masse quoll aus Fenstern und Türen, eine Art Schimmelpilz, der wie Flechten die Wände überzog. Wo die wulstigen Fladen abgefallen waren, hatte sich das Mauerwerk verändert, sah fleischig aus und schien kaum merklich zu pulsieren. Die einst gepflegten Rasenflächen vor dem Hauptflügel hatten sich in sumpfige Schlammpisten verwandelt, aus denen abgestorbene Sträucher ragten. Auf den Wegen glitzerten stinkende Pfützen.
Bilder einer Burg regten sich in Liams Gedächtnis. Türme wie Dornen. Organische Mauern. Eine Festung hoch oben auf einer Felsnadel, um die immerzu der Wind heulte. Er erinnerte sich, dass er dort gewesen war, während der Dämon seinen Körper kontrollierte.
Liam wurde klar, dass der Magistratspalast begann, sich in ein Ebenbild jenes bizarren Bauwerks zu verwandeln. Mit den Dämonen war auch ihre kranke Architektur nach Bradost gekommen, die vergiftete Luft des Pandæmoniums und all das Böse, das jeden Stein, jedes Staubkorn durchdrang. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Welt der Menschen zu einem Ödland aus Asche und Fäulnis wurde, in dem kein Leben existieren konnte.
Ein weiterer Peitschenhieb traf ihn zwischen den Schulterblättern, und er schleppte sich mit gesenktem Kopf weiter. Die Dämonen führten sie ins Innere des Palasts, durch Flure und Hallen, in denen die Verwandlung des Gebäudes schon weit vorangeschritten war. Wände glitzerten feucht. Säulen glichen knotigen Strängen. Ehemals rechtwinklig geformte Räume ähnelten gewölbten Kavernen.