Wenige Augenblicke später stieß sie die Hände in die Tunnelwand, als wollte sie einen Vorhang teilen, und schuf eine Öffnung, durch die Tageslicht hereinströmte. Umbra und Jackon traten hindurch, und Liam hörte die Stimme von Lucien. »Ausgesprochen nett von euch, dass ihr zurückgekommen seid«, sagte der Alb bissig. »Wenn es nicht zu viel verlangt ist, warnt mich bitte das nächste Mal, bevor ihr euch in Luft auflöst. Ich hätte auch nichts dagegen gehabt, mitzukommen, nebenbei bemerkt.«
»Beruhige dich«, sagte Jackon. »Es ist alles gut gegangen. Wir haben sie gerettet.«
Liam, Vivana und Ruac schoben sich durch den Lichtspalt und fanden sich auf dem Hof einer verlassenen Manufaktur wieder. Liam konnte nirgendwo Dämonen entdecken – sie schienen tatsächlich in Sicherheit zu sein. Er atmete auf.
Lucien war noch lange nicht besänftigt. Missmutig beäugte er Liam und Vivana. »Ist alles in Ordnung mit euch? Hat Umbra euch etwas angetan?«
»Na klar«, knurrte die ehemalige Leibwächterin. »Ich rette ihnen den Hintern, nur um ihnen anschließend eine reinzuhauen.« Schnaubend öffnete sie ihre Pulverflasche und lud ihre Pistole nach.
»Alles bestens«, sagte Liam. »Es geht uns gut. Wir verdanken ihr unser Leben.«
»Na schön«, meinte Lucien. »Dann lasst uns zurück zu den anderen gehen – aber ohne sie.«
»Was?«, fuhr Jackon auf. »Nach allem, was sie für uns getan hat? Das ist nicht fair. Außerdem brauchen wir sie.«
»Wir kommen sehr gut ohne sie zurecht. Wer weiß, was ihr in den Sinn kommt, wenn sie Lady Sarka begegnet. Vielleicht fällt ihr plötzlich ein, dass sie lieber doch keine Überläuferin sein will.«
»Jetzt hör mir mal zu, Alb«, sagte Umbra barsch. »Ich nehme an, ihr wollt zum Palast. Dort wimmelt es von Spiegelmännern. Lady Sarka hat sämtliche Wachen zusammengezogen, um sich vor den Dämonen zu schützen. Ohne mich habt ihr nicht den Hauch einer Chance hineinzukommen. Sie würden euch abschlachten, bevor ihr auch nur über die Mauer geklettert seid. Entweder vertraust du mir, oder du gehst in den sicheren Tod.«
Lucien hielt ihrem Blick stand, und Liam konnte beinahe hören, wie die Luft zwischen ihnen knisterte. »Gut«, sagte er schließlich. »Du bringst uns zu Lady Sarka. Aber glaub ja nicht, du könntest uns aufs Kreuz legen. Ich habe ein Auge auf dich.«
»Die Dämonen sollen dein Auge holen.« Umbra wandte sich Jackon zu. »Wo versteckt sich der Rest von euch?«
»In einem leer stehenden Haus. Am Ende der Greifengasse, glaube ich.«
»Ich weiß, wo das ist.« In den Schatten zwischen der Hofmauer und dem Kistenstapel öffnete sie ein neues Tor. »Meine Damen und Herren, wenn ich bitten darf.«
Sie schritten durch den Tunnel. Liam blickte stur geradeaus und versuchte, nicht auf die huschenden Bewegungen in der Dunkelheit jenseits des schmalen Pfades zu achten. Umbras Art der Fortbewegung mochte unauffällig und Zeit sparend sein, doch er konnte nicht behaupten, dass sie ihm Spaß machte.
Vivana dagegen schien sich bereits daran gewöhnt zu haben. Sie stapfte den Korridor entlang, als wäre es der normalste Vorgang der Welt. »Ich muss dich etwas fragen«, wandte sie sich leise an Umbra. »Nachdem wir aus dem Ministerium der Wahrheit geflohen sind, haben mein Onkel Madalin, seine Brüder und seine Kinder die Stadt verlassen. Weißt du, was aus ihnen geworden ist?«
»Sie wurden jedenfalls nicht von der Geheimpolizei geschnappt, falls es das ist, was du wissen willst. Corvas' Leute haben sie zwar verfolgt, aber irgendwo in Karst ihre Spur verloren und die Suche schließlich abgebrochen, weil sie hier gebraucht wurden. Ich nehme an, sie sind längst in Torle oder im Norden.«
Vivana wandte sich zu Liam um. »Hast du gehört? Sie haben es geschafft!«
Sie verließen den Tunnel in einer dunklen Ecke am Ende der Greifengasse. Als sie sicher waren, dass niemand sie beobachtete, eilten sie zu dem Stadthaus, vor dem das Wrack der Jaipin lag. Von Jackon wusste Liam, dass außer Vivanas Vater und Khoroj niemand bei dem Absturz verletzt worden war, was ihm jetzt, da er das verbrannte Gerippe sah, wie ein Wunder erschien.
In einem spinnwebenverhangenen Kellergewölbe fanden sie den Rest ihrer Gefährten. Khorojs Leibwächter hatten die Kopfverletzung des Südländers mit Kleiderfetzen verbunden. Er war bei Bewusstsein, wirkte jedoch fiebrig und geschwächt.
Die Freunde umarmten einander. Quindal war so froh, Vivana wiederzuhaben, dass er beinahe weinte.
Dann bemerkte er Umbra.
»Was hat sie hier zu suchen?«
»Keine Sorge, Paps«, sagte Vivana. »Das geht in Ordnung.« Sie fasste die Ereignisse der letzten Stunde zusammen. Erwartungsgemäß war ihr Vater der ehemaligen Leibwächterin gegenüber noch misstrauischer als Lucien. Erst nach einer hitzigen Diskussion sah er widerwillig ein, dass es sie nicht weiterbrachte, Umbra zu fesseln oder fortzujagen.
»Also gut«, brummte er. »Aber ich warne dich – ich behalte dich im Auge.«
»Ach, du auch?« Umbra hob eine Braue. »Hoffentlich bekomme ich bei so viel Publikum kein Lampenfieber.«
»Hat man nach euch gesucht?«, sprach Lucien den Erfinder an.
»Wir hatten Glück, es war niemand da. Vorods Männer haben mehrere Soldaten beobachtet, aber sie sind nicht ins Haus gekommen. Offenbar haben sie das Wrack der Jaipin gesehen und uns für tot gehalten.«
»Was sind jetzt eure Pläne?«, fragte Umbra ungeduldig.
Mahoor Shembar trat aus den Schatten jenseits des Treppenaufgangs. Ihr bringt mich zu Lady Sarka, damit ich den Bindezauber aufheben und den Phönix befreien kann, wisperte er.
»Bei allen Dämonen!«, keuchte Umbra und riss ihre Pistole aus dem Holster. Bevor sie auf den Untaten schießen konnte, hielt Liam ihren Arm fest.
»Nicht! Er gehört zu uns.«
»Was ist das – ein verdammter Ghul?«
»So ähnlich. Aber er stellt keine Gefahr für uns dar. Er heißt Mahoor Shembar.«
Es ist mir ein Vergnügen, meine Dame. Der Nigromant neigte knarzend den Kopf.
Umbra schluckte und steckte ihre Pistole weg. »Wer kommt noch alles mit?«
Es meldeten sich Liam, Jackon, Vivana und Lucien.
»Ich würde gern, aber ich fürchte, mit meinem Bein halte ich euch nur auf«, sagte Quindal. »Vorod bleibt ebenfalls hier. Er muss sich ausruhen. Was ist mit deinen Männern, Vorod?«
Der Südländer saß an der Wand, das Gesicht von einem Schweißfilm bedeckt. »Ich fürchte, sie werden nicht von meiner Seite weichen, selbst wenn ich es ihnen befehle.«
»Sechs Leute sind ohnehin das Maximum für ein Schattentor«, sagte Umbra. »Der Lindwurm muss auch hierbleiben. Aber er wäre uns in einem Kampf sowieso keine große Hilfe.«
Vivana war einverstanden. »Können Ihre Männer seine Wunde versorgen?«, fragte sie.
»Natürlich«, antwortete der Südländer leise.
Viel mehr gab es nicht zu sagen.
»Dann wollen wir mal«, meinte Lucien.
Während Umbra ein Tor öffnete, verabschiedeten sich die Gefährten voneinander. Vivana drückte Ruac und ihren Vater an sich. »Viel Glück«, murmelte Quindal, und sein Gesicht war grau vor Angst um sie. »Und seid bitte vorsichtig, versprich mir das.«
»Versprochen, Paps«, sagte Vivana heiser.
Ehe Liam den schwarzen Tunnel betrat, wandte er sich noch einmal um, hob die Hand und brachte ein schwaches Lächeln zu Stande. Er versuchte, nicht daran zu denken, dass er Ruac und den alten Erfinder und Khoroj vielleicht zum letzten Mal sah.
»Wohin bringst du uns?«, fragte Jackon, während sie dem Schattenkorridor folgten.
»Zu einem Nebenraum der Bibliothek, wo sich aller Wahrscheinlichkeit nach keine Spiegelmänner aufhalten«, antwortete Umbra. »Außerdem steht dort ein Waffenschrank, wo ihr euch mit Pistolen und Munition eindecken könnt. Wenn ihr meinen Rat hören wollt: Sollten wir Corvas und Amander begegnen, haltet euch nicht mit Reden auf – schießt. Sie werden es ihrerseits genauso machen.«