Du hast bemerkenswerte Fähigkeiten, sagte Mahoor Shembar, und seine Augen glühten im Zwielicht. Wo hast du gelernt, dir die Schatten untertan zu machen?
»In der Sonntagsschule.« Umbra öffnete in der Tunnelwand einen Spalt und spähte hindurch. »Die Luft ist rein. Aher seid trotzdem leise.«
Sie verließen das Zwischenreich der Schatten und gelangten in ein Zimmer, in dem sich ein Durchgang zum Hauptraum der Bibliothek befand. Unangenehme Erinnerungen stiegen in Liam beim Anblick der Bücherregale auf. Als er das letzte Mal hier gewesen war, hatte er das Gelbe Buch von Yaro D'ar gefunden und war kurz darauf von Seth ins Pandæmonium geschleudert worden.
Umbra zückte einen Schlüsselbund, schloss einen Waffenschrank auf und begann, Pistolen, Munitionstaschen und Pulverflaschen zu verteilen.
»Danke, ich bleibe bei meinen Messern«, lehnte Lucien ab.
Vivana und Jackon nahmen jeweils eine Waffe an sich und ließen sich von Umbra erklären, wie man sie lud. Liam griff nach einem Säbel.
»Keine Pistole?«, fragte die ehemalige Leibwächterin. »Ich habe meine Prinzipien.«
Er registrierte eine Bewegung im Augenwinkel und fuhr mit der Klinge in der Hand herum.
Eine Gestalt kauerte im Eingang.
»Keine Angst, das ist nur Primus«, sagte Jackon nach dem ersten Schreck.
Das Grauen drohte Liam die Kehle zuzuschnüren. »Nein«, krächzte er. »Das ist nicht Primus... das ist Godfrey.«
Der Aethermann – besser gesagt: das, was von ihm übrig war – kam langsam herein. Sein Körper war deformiert und bucklig und passte nicht mehr richtig in den Anzug, weswegen das Tweed an mehreren Stellen gerissen war. Tuchfetzen spannten sich über verwachsenes Fleisch und graue Haut. Sein linkes Bein wirkte dünn, schwach und nutzlos; er schleifte es nach und benutzte es nur, um sich abzustoßen, während er mit dem rechten einen Schritt nach vorne machte und sich dabei wie ein Affe mit beiden Händen an Wänden und Regalen entlangzog. Liam hätte ihn nicht erkannt, wäre da nicht Godfreys blasses Gesicht unter der abgewetzten Melone gewesen. Es war ebenfalls entstellt, aber nicht so stark wie der Rest seines Körpers.
Keiner der Gefährten brachte einen Ton heraus. Umbra dagegen wirkte eher angewidert als entsetzt.
»Was willst du?«, fragte sie unwirsch.
Die schmatzende, gluckernde, knarzende Stimme, mit der Godfrey sprach, erschütterte Liam noch mehr als der Anblick seines missgestalteten Körpers.
»Euch-chch um Vergebung bitten.«
»Was... Was ist mit ihm passiert?«, wandte sich Liam an Umbra. Er brachte es nicht über sich, Godfrey anzusprechen.
»Lady Sarka – das ist ihm passiert.«
»Sie hat ihm das angetan?«, fragte Vivana mit einem Zittern in der Stimme.
»Mehr als alles andere habe ich-chch mir einen richtigen Körper gewünscht«, krächzte Godfrey. »Einen menschlichen Körper aus Fleisch und Blut. So wie früher mtz-vor meinem Unfall. Lady Sarka hat mir versprochen, mich-chch zum Dank für meine Dienste mit ihrer alchymistischen Kunst zu heilen. Aber es hat nicht mtz-funktioniert. Sie hat ein Monster mtz-aus mir gemacht.«
»Oder sie hat es absichtlich getan«, murmelte Umbra. »Inzwischen traue ich ihr alles zu.«
»›Zum Dank für meine Dienste‹«, wiederholte Lucien verächtlich. »Du hast uns verraten, Godfrey. Deinetwegen wären wir fast getötet worden. Erwartest du, dass wir Mitleid mit dir haben?«
»Nein. Ich-chch habe den Lohn bekommen, den ich verdiene.«
»Beantworte mir eine Frage: Du hast beschlossen, uns Corvas auszuliefern, als du deine Geheimpolizei-Akte gelesen hast, richtig? Was stand in der Akte?«
Umbra antwortete an Godfreys Stelle: »Die Geheimpolizei hatte die Anweisung, Godfrey bei seinen Aktivitäten gewähren zu lassen, solange er Bradost nicht schadete. Corvas wollte ihn nur dann vernichten, wenn er sich zu einer Gefahr für Lady Sarka entwickelte. Aber er wusste, dass das sehr schwer werden würde. Also hat er beschlossen, ihn zu kaufen, sollte es nötig werden, und ihm das anzubieten, wonach er sich am meisten sehnte: die Wiederherstellung seines Körpers.«
Lucien starrte den Missgestalteten bohrend an. »Stimmt das? Wir waren also der Preis für deine Heilung?«
»Ja. Ich-chch war ein Narr.«
Liam schluckte. Jetzt war ihm alles klar. Nachdem Godfrey in seiner Akte von Corvas Plänen gelesen hatte, musste in ihm die Hoffnung aufgestiegen sein, eine mächtige Alchymistin wie Lady Sarka könne ihm vielleicht seinen Wunsch erfüllen. Eine Hoffnung, die stärker war als seine Loyalität zu Quindal und dessen Gefährten – zumal ihre Freundschaft durch die Zerstörung seines Verstecks Risse bekommen hatte. Also hatte er sich entschieden, sie zu verraten.
Liam schloss für einen Moment die Augen. Godfreys Schicksal war so traurig und entsetzlich, dass er einfach nicht fähig war, ihn zu hassen. Er wünschte, der Aethermann hätte sich ihnen anvertraut, damit sie gemeinsam hätten versuchen können, ihm zu helfen. Gewiss wäre es ihnen irgendwie gelungen, das Leid und die Einsamkeit, die ihn quälten, zu lindern.
»Könnt ihr mir mtz-vergeben?«, krächzte Godfrey.
Lange Zeit herrschte Schweigen, und man hörte nur Godfreys pfeifenden Atem. Vivana war die Erste, die sprach: »Du wurdest betrogen und getäuscht. Dafür kannst du nichts. Ja, ich vergebe dir.«
»Ich auch«, murmelte Liam, und die anderen schlossen sich ihm an, wenngleich Lucien einen Moment zögerte.
»Wir müssen jetzt weiter«, drängte Umbra.
»Warte hier auf uns«, sagte Liam zu Godfrey. »Wenn wir Lady Sarka besiegt haben, kommen wir zurück und holen dich. Bestimmt fällt uns etwas ein, wie wir dir helfen können.«
»Niemand kann mir jetzt noch helfen. Ich-chch habe nur noch einen Wunsch.«
Bitte nicht, dachte Liam und biss sich auf die Lippe.
»Tötet mich«, krächzte Godfrey.
»Nein«, flüsterte Vivana. »Das kannst du nicht von uns verlangen.«
»Bitte. Ihr müsst mir diesen Wunsch erfüllen. Ich-chch kann so nicht leben. Ich bin ein Ungeheuer. Die Menschen fürchten mich. Sogar ihr, mtz-meine Freunde. Und die Schmerzen werden immer schlimmer.«
»Er hat Recht«, sagte Lucien. »Wir können ihm diese Gnade nicht verwehren. Es sei denn, du kannst ihn irgendwie zurückverwandeln«, wandte er sich an Mahoor Shembar.
Nein, wisperte der Untote. Das übersteigt meine Macht.
Lucien schaute in die Runde. Die Gefährten wichen seinem Blick aus.
»Tu du es«, sagte Liam mit belegter Stimme. »Ich schaffe das nicht.«
Mit einem harten Zug um den Mund zog der Alb sein Messer. Einen Augenblick später war es getan.
»Ich danke dir, mein Freund«, flüsterte Godfrey und starb. Jemand klatschte Applaus.
»Wie rührend«, höhnte Lady Sarka. »Der Verräter winselt um Vergebung, und mit Tränen in den Augen erlöst man ihn von seinem Elend. Das ist wahre Freundschaft.«
Sie stand im Hauptraum der Bibliothek, flankiert von Corvas und Amander, die in jeder Hand eine doppelläufige Pistole hielten.
»Was seid ihr nur für ein erbärmlicher Haufen. Ihr glaubt allen Ernstes, ihr könntet mich besiegen? Niemand kann das. Meine Macht ist viel zu groß, größer noch als Aziels...«
Umbra schoss. Die Kugel verfehlte jedoch ihr Ziel, denn Lady Sarka verschwand, als hätte sie sich in Luft aufgelöst.