Lucien setzte sich in einen abgewetzten Ohrensessel.
»Können wir etwas für dich tun?«, erkundigte sich Vivana besorgt.
»Gebt mir eine halbe Stunde, dann sollte ich wieder auf den Beinen sein.«
»Wohin ist Lady Sarka verschwunden?«, fragte Liam.
»In die Traumlanden«, antwortete Jackon. »Ihre Macht ist inzwischen so groß, dass sie sie betreten und verlassen kann wie ein Alb.«
»Kannst du den Bindezauber brechen, wenn sie nicht da ist?«, wandte sich Vivana an Mahoor Shembar, der am Fenster stand und die Stadt betrachtete.
Nein. Der Gegenzauber erfordert, dass ich sie berühre.
»Mit anderen Worten«, sagte Liam, »solange Lady Sarka in den Traumlanden ist, können wir nichts ausrichten. Sie kann sich beliebig lange vor uns verstecken.«
»Es gibt einen Weg«, sagte Lucien. »Wir müssen sie zwingen, die Traumlanden zu verlassen.«
»Und wie?«
»Jackon muss sie in den Träumen besiegen, so wie er einst Aziel besiegt hat.«
Jackons Augen weiteten sich. »Aber das kann ich nicht! Sie ist viel zu stark.«
»Du musst ja nicht allein gegen sie kämpfen«, erwiderte der Alb. »Ich komme mit. Meine Kräfte in den Traumlanden sind zwar nicht mehr so stark wie früher, aber zu zweit haben wir vielleicht eine Chance gegen sie.«
Jackon blickte nacheinander Liam, Lucien, Vivana und Umbra an. »Also gut. Ich mache es. Es gibt da nur ein Problem: Wie soll ich einschlafen? Ich bin viel zu nervös.«
»Würde dir das Bittergras helfen, dass du immer von Lady Sarka bekommen hast?«, fragte Umbra.
»Ich glaube nicht. Es ist nicht stark genug.«
»Also brauchen wir ein richtiges Schlafmittel. Ich bringe uns zu Lady Sarkas Labor. Dort bewahrt sie alle möglichen Substanzen und Tränke auf. Da finden wir sicher was für dich.«
»Warte noch ein paar Minuten«, sagte Lucien. »Ich muss bei Kräften sein, wenn ich Jackon helfen will.«
Liam spähte durch den Türspalt. »Ich fürchte, so viel Zeit haben wir nicht. Ich habe Geräusche gehört. Wahrscheinlich die Spiegelmänner, die den Palast nach uns absuchen.«
Der Alb seufzte und stemmte sich hoch. »Also los.«
Diesmal führte Umbras Tunnel steil abwärts. Liam und seine Gefährten traten durch die Öffnung in der Schattenwand und gelangten in eine Höhle, die von einem fahlen, blauen Glühen erfüllt war. Die Wände waren glatt und transparent wie Eis.
»Wo sind wir?«, fragte Liam, während er sich umschaute.
»In den Glashöhlen unter dem Palastkeller.« Umbra schritt zu einer geräumigen Nische, worin sich ein Athanor und ein Tisch mit einer alchymistischen Apparatur, bestehend aus allerlei Röhren und Glaskolben, befanden. Sie öffnete einen Blechschrank und durchsuchte die Tiegel und Trankfläschchen. »Hier. Ein starkes Beruhigungsmittel. Das sollte gehen. Nimm einen Schluck, aber nicht zu viel, hörst du? Wir wollen nicht, dass du ins Koma fällst.«
Skeptisch betrachtete Jackon die rotbraune Glasphiole, entfernte den Korkpfropfen und setzte sie an die Lippen. Er verzog das Gesicht. »Schmeckt scheußlich.«
»Wie jede wirksame Medizin.« Umbra schob die Gerätschaften vom Tisch. Glas zersplitterte auf dem Höhlenboden. »Leg dich da drauf Etwas Bequemeres haben wir leider nicht.«
Der Rothaarige streckte sich auf dem Steintisch aus. Die ehemalige Leibwächterin faltete einen ledernen Schutzumhang zusammen und schob ihn unter seinen Kopf. Das Mittel begann bereits zu wirken: Liam sah, wie Jackon die Lider schwer wurden.
Lucien trat zu ihm. »Wir treffen uns an deinem Seelenhaus, in Ordnung?«
»Bis gleich.« Jackon schlief ein.
»Wünscht mir Glück«, sagte der Alb und verschwand.
42
Der letzte Kampf
Vorsichtig tastete Nestor Quindal über sein ausgestrecktes Bein. Er konnte spüren, dass der Oberschenkel gebrochen war, genau da, vier Zoll über dem Knie. Er verzog das Gesicht, als der Schmerz von Neuem aufflammte.
Ausgerechnet jetzt ließen ihn seine alten Knochen im Stich. Nun saß er da, zur Untätigkeit verurteilt, während Vivana Lady Sarka und ihren Leibwächtern gegenübertrat.
Verdammtes Bein. Verdammte Jaipin. Warum nur hatten sie abstürzen müssen?
Wenn er wenigstens gewusst hätte, ob Vivana und die anderen wohlauf waren...
Er schloss die Augen und wartete, dass der Schmerz verging. In der Ferne hörte er leisen Kanonendonner.
Plötzlich ertrug er die Enge und die Dunkelheit des Kellers nicht mehr. »Sag deinen Männern, dass sie mich nach oben bringen sollen«, bat er Khoroj.
»Wozu?«, fragte der Südländer.
»Ich will mich umsehen.«
Khoroj murmelte etwas, woraufhin einer seiner Leibwächter Quindal beim Aufstehen half. Mit zusammengebissenen Zähnen stützte er sich auf den muskulösen Mann und kämpfte sich die Treppe nach oben.
»Noch eins«, murmelte er im Erdgeschoss und deutete auf die Stiege zum ersten Stock.
Stufe für Stufe hüpfte er hinauf, der Schmerz war nahezu unerträglich. Oben, in einem weitläufigen Salon, der nichts enthielt außer bröckelnden Putz und Spinnweben, ließ er sich zum Fenster führen.
Über der Küste tobte die Schlacht. Luftschiffe brannten. Aether strömte aus zerfetzten Hüllen. Blitze zerschnitten den Himmel.
Ein Schiff, das gänzlich in Flammen stand, stürzte ab und sank dem Meer entgegen wie ein glühender Meteor. Quindal kniff die Augen zusammen. Die Zhila? Die Phönix? Er konnte es nicht erkennen.
»Da rüber«, sagte er, und der Leibwächter führte ihn zu einem anderen Fenster.
Wie ein steingewordener Schatten überragte Lady Sarkas Palast die Dächer der Altstadt. Quindals Blick glitt über Erker, Fassaden, Wasserspeier.
Da – ein Flackern im Fenster: das Mündungsfeuer einer Pistole?
Sein Mund wurde trocken. Gib auf dich Acht, Vivana.
Und dann tat er etwas, das er schon Jahrzehnte nicht mehr getan hatte.
Nestor Quindal betete.
Jackon schritt zielstrebig durch die Phantasmagorien seiner Träume und öffnete die Tür. Vor seinem Seelenhaus erwartete ihn Lucien.
Der Alb sah nicht gut aus.
»Bist du sicher, dass du mir helfen willst?«, fragte Jackon besorgt.
»Oh, was ich tun will, ist auf meiner Couch liegen und Wasserpfeife rauchen. Aber das würde uns nicht weiterbringen, oder?«
»Nein, ich meine...«
»Es wird schon irgendwie gehen. Komm, bringen wir es hinter uns.«
Sie wandten sich zur Straße um. Der immerwährende Wind war stärker als sonst. Er riss an ihrer Kleidung und wirbelte Silberstaub über die Dächer. Die Seelenhäuser sahen aus, als wäre ein Tornado über sie hinweggefegt und hätte Erker, Balkone und Dachziegel mitgerissen. Überall lagen Trümmer, zwischen denen herrenlose Träume herumirrten.
»Es ist furchtbar, oder?«, flüsterte Jackon.
»Lass uns zum Palast springen«, erwiderte der Alb müde.
»Warte. Ich brauche noch Traumsubstanz.«
Jackon ging zu einem Seelenhaus, in das ein Bote gerade frische Traumsubstanz geliefert hatte, schöpfte etwas davon auf und trank sie Schluck für Schluck. Er musste sich konzentrieren, damit ihn die Geschmacksexplosion in seinem Mund nicht aus dem Schlaf riss.
»Wir können«, sagte er, als er wieder draußen war. »Soll ich dir helfen?«
»Ja, das wäre wohl besser.«
Jackon ergriff Luciens Hand und sprang. Sie landeten vor dem Palasttor.
»Lady Sarka wird bereits auf uns warten«, sagte der Alb. »Mach dir so viele Träume wie möglich, damit wir sofort angreifen können.«