»Wirst du auch Träume erschaffen?«
»Aziel hat mir die Macht über die Träume genommen, als er mich verbannte. Ich versuche, dich mit meinen Messern zu unterstützen.«
Jackon schloss die Augen. Aus seinen Händen wuchsen Blasen, fielen zu Boden und formten sich zu Albträumen. Kurz darauf war Jackon von mehr als einem Dutzend schrecklicher Monstren umgeben, von einäugigen Riesen, klauenbewehrten Schatten, schwarzen Spinnen so groß wie Pferde.
»Beeindruckend«, murmelte Lucien. »Aber wird es genügen?«
Jackon blickte zu den blauschwarzen Türmen und Zinnen auf, während der Wind sein Haar zerzauste. Schon zweimal hatte sein Schicksal an diesem Ort eine Wendung genommen, und nun würde es sich ein für alle Mal entscheiden. Zum Guten oder zum Schlechten.
Er atmete tief durch und schritt an der Spitze seiner albtraumhaften Horde durch das Tor.
Lady Sarka saß auf ihrem Thron im Großen Saal. Albträume standen in Reih und Glied zwischen den Säulen, ein undurchdringlicher Wall aus Klauen, Zähnen und missgestalteten Leibern.
So viele, dachte Jackon, und Grauen kroch sein Rückgrat hinauf. Es mussten mindestens vierzig sein, einer grausiger als der andere. Nicht einmal Aziel war in der Lage gewesen, eine solche Armee zu kontrollieren.
Lady Sarkas Augen glitzerten wie Eissplitter. Jackon fragte sich, wie er sie jemals für schön hatte halten können. Sie war abstoßend in ihrer Makellosigkeit, so perfekt wie behauener Marmor und gleichzeitig so leblos und kalt. Zerfressen von Machtgier, ausgehöhlt von Hass. Das Feuer des Phönix umloderte sie. Sie machte sich nicht mehr die Mühe, es zu verbergen. Sie wollte ihn damit verhöhnen.
»Hast du mir etwas zu sagen, Jackon?«, fragte sie liebenswürdig.
Er verlieh seiner Stimme einen festen Klang, obwohl er am liebsten davongelaufen wäre. »Ihr habt den Phönix versklavt, die Traumlanden unterworfen und Dämonen in unsere Welt geholt. Dafür werden wir euch bestrafen.«
Sie lächelte dünn. »Ein kranker Alb und ein Schlammtaucher glauben, sie könnten die Herrin der Träume herausfordern. Ein ausgezeichneter Scherz. Ich werde darüber lachen, während ich eure kleinen Seelen zerstampfe und in die ewige Nacht schleudere.«
Brüllend wie ein Orkan stürmten ihre Albträume los.
Liam stand am Labortisch, hielt den Atem an und betrachtete Jackon. Stocksteif lag der Rothaarige da, die Hände zu Fäusten geballt. Kalter Schweiß glitzerte auf seiner Stirn. Seine Augen zuckten unter den Lidern. Gelegentlich bewegte sich in seinem Gesicht ein Muskel.
»Es hat angefangen«, murmelte Umbra.
»Was geschieht mit Jackon, wenn Lady Sarka ihn in den Träumen tötet?«
»Wenn er Glück hat, wacht er einfach auf. Wenn nicht, erleidet er schwere seelische Schäden.«
So wie Nedjo. Fröstelnd rieb sich Liam die Arme. Er blickte zu Mahoor Shembar, der im Blechschrank ein Stück Kreide gefunden hatte und damit okkulte Symbole und Ornamente auf die Höhlenwand zeichnete.
»Wie weit bist du?«, fragte Vivana.
Fast fertig. Etwas Wichtiges fehlt jedoch noch.
Der Untote kam auf Liam zu.
Gib mir deine Hand.
»Wozu?«, fragte Liam voller Unbehagen.
Anstelle einer Antwort packte Shembar seinen Arm. In seiner anderen Knochenhand hielt er plötzlich ein kleines Messer. Der Nigromant bewegte sich so schnell, dass Liam sich weder befreien noch zurückweichen konnte.
»Au! Verdammt, spinnst du?«
Runen aus Blut sind wirksamer. Der Nigromant tauchte seinen Finger in das Blut, das aus dem Schnitt an Liams Unterarm quoll, und schritt zur Höhlenwand zurück.
Liam presste seine Hand auf die Wunde und starrte Shembar finster an. Der Untote schmierte das Blut auf den glasigen Fels und zeichnete einen kleinen roten Halbmond.
Ferne Geräusche hallten durch die Tunnel. »Spiegelmänner!«, stieß Umbra hervor.
»Was machen wir jetzt?«, fragte Liam. »Wir können hier nicht weg, solange Jackon schläft.«
»Wir müssen uns verbarrikadieren.«
»Wie, ohne Türen in den Zugängen?«
Umbra eilte zu einem Hebel an der Wand. Als sie ihn umlegte, sauste aus einem Schlitz in der Höhlendecke, den Liam bisher nicht bemerkt hatte, ein Eisengitter. Auch den zweiten Eingang der Kaverne verschloss sie auf diese Weise.
Die Geräusche kamen näher. Trampelnde Schritte. Eine Bewegung ließ Liam herumfahren.
Ich brauche mehr Blut, wisperte Mahoor Shembar.
Um Jackon wogten die Albträume, zerfetzten und zerschmetterten einander mit Pranken und Klauen. Eine Riesenspinne sprang einen Oger an und schlug ihm die gifttriefenden Mandibeln in die Kehle, bevor ein riesiger Henker heranstürmte und sie mit seiner Axt spaltete. Schmerz durchbohrte Jackons Schädel, so viel Konzentration kostete es ihn, all die wimmelnden Geschöpfe zu kontrollieren. Wenn einer seiner Nachtmahre vernichtet wurde, erschuf er einen neuen und warf ihn in die Schlacht.
Lady Sarka lachte.
Die Flut ihrer Kreaturen nahm kein Ende.
Lucien wirbelte durch das Getümmel, wich Angriffen aus und stieß seine Messer in die halbmateriellen Leiber. Jackon sah, wie zwei Gegner Luciens zu roher Traumsubstanz zerliefen, ehe sich die Reihen der Träume wieder schlossen und der Alb im Gewühl verschwand.
Jackon wich zurück und prallte mit dem Rücken gegen eine Säule. Er hatte versucht, sich aus dem Kampf herauszuhalten, damit er aus sicherer Entfernung seine Nachtmahre lenken konnte. Doch Lady Sarkas Monster waren einfach zu zahlreich. Sie umzingelten seine Albträume und strömten durch den Saal, bis auch er sich inmitten des Gefechts wiederfand. Plötzlich musste er schnappenden Hornscheren und herabstoßenden Stacheln ausweichen und konnte sich kaum noch konzentrieren.
Lady Sarka hielt sich nicht damit auf, seine Nachtmahre zu vernichten. Sie wollte ihn töten und die Schlacht auf einen Schlag entscheiden.
Rasch machte sich Jackon einen Helm, einen Brustpanzer, einen Schild und einen Säbel und parierte die Angriffe der Albträume. Einem geflügelten Schatten stieß er die Klinge ins Maul, doch kaum hatte sich das Wesen aufgelöst, wurde sein Platz von einem neuen Ungeheuer eingenommen, das ihn mit seiner knochigen Faust traf und zu Boden schleuderte.
Jackon riss den Schild hoch. Hiebe prasselten auf das Metall.
»Lucien!«, schrie er.
Es gelang ihm, sich aufzurappeln. Verzweifelt schlug er mit dem Säbel um sich. Hackte eine Klaue ab und köpfte einen Ghul.
Zwei Albträume erstarrten und begannen sich aufzulösen. Lucien erschien zwischen den zerlaufenden Leibern, in jeder Hand einen Dolch, das Haar schmutzig und schweißnass. Er blutete aus mindestens einem Dutzend kleinen Wunden. Offenbar verdankte er es allein seiner eisernen Willenskraft, dass er nicht längst vor Erschöpfung zusammengebrochen war.
»Du musst hier raus!«, rief der Alb. »Bleib dicht bei mir.«
Jackon verwandelte seinen Säbel in einen Speer. Seite an Seite kämpften sie sich voran, bahnten sie sich einen Weg durch die Halle, erschlugen Nachtmahre und wateten durch Pfützen aus roher Traumsubstanz. Irgendwann erreichten sie einen Durchgang, den sie leicht gegen die anstürmenden Horden verteidigen konnten. Jackon konzentrierte sich wieder auf seine Albträume, während Lucien ihn vor den Ungeheuern beschützte.
Fast die Hälfte seiner Kreaturen war vernichtet worden, als er die Kontrolle über sie verloren hatte. Die übrigen warf er mit neuer Entschlossenheit ins Gefecht. Doch inzwischen war die Übermacht so erdrückend, dass sie kaum eine Chance hatten. Sie wurden schneller erschlagen, als Jackon neue erschaffen konnte.
Schritt für Schritt mussten Lucien und er in den Gang zurückweichen.
»Wir können nicht gewinnen!«, keuchte Jackon. »Lady Sarka ist viel zu mächtig.«