Fahrig öffnete Vivana die kleine Ledertasche an ihrem Gürtel. »Acht Schuss. Nein, sieben.«
»Gib mir vier.«
Sie tat wie geheißen, und Umbra lud ihre Pistole.
»Schieß auf Corvas. Wenn wir ihn erledigt haben, wissen die Spiegelmänner mit etwas Glück nicht mehr, was sie machen sollen.«
Vivana nickte. Sie wünschte, es gäbe einen Zauber, mit dem sie Corvas so einfach wie Amander zur Strecke bringen könnte. Mit einer Pistole in der Hand fühlte sie sich weit weniger stark.
Plötzlich erschien Jackon in der Mitte der Kaverne. Eine gekrümmte Gestalt war bei ihm: Lady Sarka. Er stieß sie zu Boden.
Es dauerte einen Moment, bis Vivana klar wurde, was das bedeutete.
»Du hast es geschafft!«, schrie Liam und sprang auf. »Du hast es tatsächlich geschafft!«
Lady Sarka hob den Kopf und starrte ihn und Vivana und Umbra mit sengendem Blick an. »Ihr denkt, ihr habt mich vernichtet, aber da irrt ihr euch«, fauchte sie. »Niemand kann das. Ich bin unbesiegbar. Unsterblich!«
Knirschend hob sich das Gitter. Die Spiegelmänner schlüpften darunter hindurch und strömten in die Laborhöhle.
Lady Sarka wollte ihnen entgegenkriechen, doch Mahoor Shembar trat lautlos zu ihr, packte sie mit seiner Knochenhand und drückte sie zu Boden. Während sie vor Entsetzen keuchte, begann er, uralte Silben und Worte zu flüstern.
Vivana hielt den Atem an. Die Blut- und Kreiderunen an der Wand glühten auf, erstrahlten in weißem Feuer, als sie die magische Energie des Zaubers bündelten.
Eine Woge aus heißer Luft rollte durch die Kaverne und warf jeden zu Boden, erst Mahoor Shembar und Jackon, dann die Spiegelmänner, dann Liam, Umbra und Vivana.
»Hinter den Tisch!«, brüllte jemand, und Vivana spürte noch, wie Hände sie auf die Füße zogen und sie ein paar Schritte vorwärtsstolperte.
Dann wurde die Welt weiß.
Vivana konnte nicht sagen, wie lange sie hinter dem Steintisch kauerte, ohne etwas zu sehen, ohne etwas zu hören, das Gesicht in den Armen verborgen. Irgendwann hörte sie das Schlagen gewaltiger Schwingen. Sie öffnete die Augen, kniff sie gegen das blendend helle Licht zusammen und spähte über den Tisch.
In der Höhle schwebte der Phönix.
Er bestand aus purem Feuer, ein Geschöpf von solcher Größe und Macht, dass Vivana es kaum wagte, ihn anzublicken. Er war schön und schrecklich zugleich.
Und er war zornig.
Lady Sarka wich voller Grauen zurück, ihre Finger krallten sich in den Fels, als sie sich rückwärts von ihm fortschob.
Yvain Sarka. Du hast mich gefangen, versklavt und meine Kräfte gestohlen. Für diesen Frevel gebührt dir der Tod.
Die Stimme des Phönix ließ die Wände erzittern. Vivana presste sich die Hände auf die Ohren und hörte sie trotzdem.
»Nein«, wimmerte Lady Sarka. »Bitte. Hab Gnade.«
Feuer fuhr auf sie herab, hüllte sie von Kopf bis Fuß ein und verwandelte sie in eine menschliche Fackel. Sie versuchte aufzustehen, brach zusammen, wälzte sich auf dem Felsboden und ruderte verzweifelt mit den Armen. Ihre Schmerzensschreie wurden immer höher, immer schriller, immer qualvoller, bis sie endlich verstummte. Lady Sarka hörte auf zu zucken und lag still da, nur noch ein schwarzes Gebilde, das kaum Ähnlichkeit mit einem menschlichen Körper aufwies. Wenige Sekunden später verschlangen die Flammen die Reste ihres Fleisches und schließlich ihre Knochen – und erloschen.
Deine Diener sind aus der Asche geboren. Sie sollen wieder zu Asche werden.
Der Phönix schlug mit den Schwingen. Eine Wand aus Feuer traf die Spiegelmänner. Die Geschöpfe loderten auf und taumelten umher, während sie verbrannten.
Und dir, Corvas, nehme ich den Verstand und das Bewusstsein und den letzten Rest deiner Menschlichkeit und verdamme dich zu einer Existenz als Aasfresser. Du sollst dich von Würmern ernähren bis ans Ende deiner Tage und vergessen, wie es einst gewesen ist, ein Mensch zu sein.
Corvas ließ seine Pistole fallen, als ihn plötzlich Krämpfe auf die Knie zwangen. Er schrumpfte, Haut wurde zu Gefieder, Arme wurden zu Flügeln, und er verwandelte sich in eine Krähe, ein letztes Mal. Verschreckt flatterte der Vogel in der Luft, bevor er durch den Tunnel davonflog.
Vivana konnte kaum noch atmen. Tränen rannen ihr über die Wangen. In der Kaverne war es so heiß, dass ihr Gesicht zu brennen schien. Als der Phönix abermals mit den Schwingen schlug, wurden sie und ihre Freunde von einem Schwall kochender Luft zu Boden geworfen.
Wie ein Pfeil aus Sonnenglut schoss er in den Gang.
Stöhnend rappelten sich die Gefährten auf und halfen einander. Jackon und Mahoor Shembar, die direkt neben Lady Sarka gestanden hatten, als der Phönix ausgebrochen war, hatten Verbrennungen erlitten – aber nur leichte. Keinesfalls so schwere, wie es angesichts der Umstände zu erwarten gewesen wäre. Offenbar hatte der Phönix darauf geachtet, sie nicht zu verletzen.
Von Lady Sarka und den Spiegelmännern dagegen war nur noch Asche übrig.
Vivana betrachtete das Häufchen Schlacke. Sie konnte nicht glauben, dass Lady Sarka nicht mehr lebte, so schnell war alles gegangen. Der Phönix hatte die Lordkanzlerin Bradosts und gefürchtete Herrin der Träume mit einem bloßen Gedanken vernichtet, in wenigen Augenblicken ausgelöscht, einfach aus der Welt getilgt. Sie hatte gedacht, sie könne die ganze Welt unterwerfen und das Gefüge des Universums umformen, doch ohne ihre gestohlene Macht war sie letztlich nichts als ein gewöhnlicher Mensch gewesen, schwach, verwundbar und hilflos angesichts einer so uralten und gottähnlichen Kreatur.
Vivana verspürte plötzlich den überwältigenden Drang, diese Höhlen zu verlassen. Sie spähte in den Tunnel, in dem der Phönix verschwunden war. Wände, Boden und Decke waren geschmolzen und warfen Blasen. In ein paar Stunden, wenn das Gestein erkaltete, würde es wieder zu jener seltsamen glasähnlichen Masse werden. Vivana begriff, dass das schon einmal geschehen war, vor einigen Jahren, als Lady Sarka den Phönix entführt und in diesen Höhlen gefangen gehalten hatte, bevor sie ihn an sich band.
»Lasst uns nach oben gehen«, schlug Lucien vor.
»Wir können dem Phönix unmöglich durch den Gang folgen«, sagte Liam. »Wir würden verbrennen.«
»Zum Glück müssen wir das nicht.« Umbra öffnete ein Schattentor und machte eine einladende Handbewegung. »Nach euch.«
Im Garten traten sie aus dem Tunnel.
Der Palast brannte.
Im Dach des Hauptflügels klaffte ein großes Loch. Auf seinem Weg in die Freiheit hatte der Phönix das Erdgeschoss und die oberen Stockwerke in Brand gesetzt. Flammen leckten aus gesplitterten Fenstern.
»O Gott, wir müssen Cedric retten!«, rief Jackon. »Und die anderen Diener!«
»Sie kommen gut allein zurecht«, sagte Umbra. »Schau mal da.«
Die Palastdiener standen neben dem Heckenlabyrinth und starrten fassungslos zu dem brennenden Gebäude auf.
Vivana entdeckte einen Schemen zwischen den Bäumen. »Primus hat es also auch geschafft.« Der missgestaltete Homunculus huschte durch den Apfelhain und verschwand in den Hecken.
»Willkommen in der Freiheit«, sagte Liam leise. »Freunde, seht nur – hier drüben!«, rief Lucien.
Die Gefährten wandten sich um. Ein feuriger Streif schoss über den Himmel, als der Phönix Richtung Küste flog. Über dem Kessel wurde er von mehreren Verschlingern attackiert, die er allesamt in Flammen aufgehen ließ, ehe er die Luftschiffe Lady Sarkas angriff. Jene, die so dumm waren, nicht sofort zu fliehen, schossen mit Kanonen und Blitzwerfern auf ihn. Sie verfehlten das schnelle und wendige Geschöpf jedoch und wurden Sekunden später von seinem Feuer vernichtet.
Liam legte den Arm um Vivana.
Bradost hatte seinen Wächter wieder.