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Erlösung
»Kannst du etwas sehen?«, rief Liam.
Jackon war auf den höchsten Apfelbaum im Garten geklettert, hielt sich am Stamm fest und drehte sich vom Rauch weg, der vom brennenden Palast herüberwehte. Selbst wenn er den Kopf reckte, konnte er keines der Luftschiffe aus Suuraj ausmachen. Entweder waren sie irgendwo gelandet oder allesamt vernichtet worden.
»Nein, nichts.«
»Und der Phönix?«
Jackon sah, dass der Magistratspalast und einzelne Gebäude im Kessel brannten. Huschende Schatten flohen vor einem Streif aus purem Feuer, der durch die Ruinen brauste. Schreie erklangen, als haushohe Flammen aufloderten. »Ich glaube, er macht Jagd auf die Dämonen.«
In diesem Moment bemerkte er mehrere Leute, die sich dem Tor der Palastmauer näherten. Es waren Quindal und Khoroj. Die beiden wurden von den Leibwächtern des Südländers gestützt und humpelten den Weg herauf, gefolgt von Ruac.
Jackon kletterte vom Baum.
Die Freunde umarmten einander. Ruac wuselte trotz seiner Verletzung um sie herum, stieß Jackon, Liam und Lucien mit dem Kopf an und schleckte Vivana übers Gesicht.
»Ich störe eure Wiedersehensfreude ja nur ungern«, sagte Umbra, »aber wir sollten wirklich zusehen, dass wir wegkommen. Der Palast sieht aus, als mache er es nicht mehr lang.«
Auf ihre Worte folgte ohrenbetäubendes Krachen. Das Dachgebälk eines Seitenflügels gab nach und stürzte in die Flammen, wodurch der ganze Gebäudeteil zusammenbrach. Zusammen flohen sie den Hügel hinab. Eine gewaltige Funken- und Rauchwolke wallte auf, und brennende Trümmer rollten über den Rasen.
Aus sicherer Entfernung schauten sie zu, wie Trakt um Trakt des Anwesens von der Feuersbrunst verschlungen wurde. Auch die Palastbediensteten hatten in dieser Ecke des Gartens Schutz gesucht. Cedric jammerte unaufhörlich.
»Was ist passiert, nachdem wir uns getrennt haben?«, fragte Khoroj nach einer Weile. Quindal und er hatten sich auf dem Sockel einer Greifenstatue niedergelassen.
Liam und Vivana berichteten, was im Palast geschehen war. Als die Sprache auf die Flotte von Suuraj kam, sagte Quindaclass="underline" »Ich habe die Luftschlacht von unserem Versteck aus beobachtet. Nur zwei Schiffe haben die Kämpfe überstanden, die Zhila und ein anderes, beide allerdings schwer beschädigt. Nachdem der Phönix Lady Sarkas Flotte vertrieben hat, sind sie vor der Küste heruntergegangen, um ihre abgestürzten Kameraden aus dem Meer zu retten.«
Die Gefährten schwiegen. Sie alle dachten an die vielen Männer und Frauen, die in der Schlacht verletzt oder getötet worden waren. Der Preis für ihren Sieg war viel höher, als sie bei ihrem Aufbruch von Suuraj gedacht hatten.
Jackon fiel auf, dass Quindal schon die ganze Zeit Lucien beobachtete. »Irgendetwas ist anders an dir«, brach der Erfinder das Schweigen. »Und an dir auch«, fügte er mit Blick auf Jackon hinzu. »Ihr habt uns nicht alles erzählt, richtig?«
»Der Kampf gegen Lady Sarka in den Traumlanden ist anfangs nicht besonders gut gelaufen«, erklärte Lucien. »Sie hätte Jackon und mich vernichtet, wenn wir nicht spezielle Maßnahmen ergriffen hätten.«
»›Spezielle Maßnahmen‹?«
»Ich habe Jackon meine verbliebenen Albenkräfte geschenkt, damit er stark genug ist, sie zu schlagen.«
»So wie diese Vila in deiner Geschichte?«
»So wie Fene, richtig.«
Quindal starrte Jackon stechend an. »Heißt das, du kannst dich jetzt unauffällig machen und andere Leute einschlafen lassen und so weiter?«
»Ich habe es noch nicht ausprobiert, aber ich glaube schon.«
»Lebst du jetzt auch ewig wie ein Alb?«
»Tue ich?«, fragte Jackon.
Lucien nickte.
Ewiges Leben. Die Fähigkeiten eines Schattenwesens. Jackon kaute auf seiner Lippe. Vermutlich gab es unzählige Menschen, die alles getan hätten, um derartige Kräfte zu erlangen. Ihm jedoch erschienen sie wie eine unerträgliche Bürde, nun, da die rauschhafte Ekstase, die ihn während des Kampfes mit Lady Sarka erfüllt hatte, verschwunden war. Er hatte nie um diese Macht gebeten. Warum konnte er kein ganz normales Leben führen?
Quindal wandte sich wieder an Lucien. »Aber wenn es dir ergeht wie Fene, dann heißt das ja, dass du jetzt sterblich bist.«
»Ich bin kein Schattenwesen mehr, sondern ein normaler Mensch wie du«, bestätigte Lucien und lächelte, als Quindal ihn betreten anschaute. »Dein Mitgefühl spricht für dich, aber dafür gibt es wirklich keinen Grund. Ich habe ein Opfer gebracht, ja, aber kein besonders großes, wenn ich ehrlich bin. Ich habe mich schon vor vielen Jahren von meinem Volk abgewandt. Dass ich Jackon meine magische Macht geschenkt habe, war nur der letzte Schritt eines Weges, den ich bereits vor langer Zeit eingeschlagen habe. Und ich hätte es gewiss nicht getan, wenn ich mir nicht sicher wäre, dass mein Platz bei euch Sterblichen ist.«
Jackon hörte ihrem Gespräch nur mit einem Ohr zu. Das Bedürfnis, allein zu sein, wurde so stark, dass er in einem unbeobachteten Moment durch die Hecken schlüpfte und sich auf eine alte Steinbank setzte, von der aus man die südöstliche Altstadt und den Kessel überblicken konnte.
Tief erschöpft betrachtete er die Ruinen und Trümmerfelder und brennenden Häuser. Er musste nachdenken. Musste Klarheit darüber gewinnen, was er nun mit seinen gewaltigen Kräften anfing. Nie wieder wollte er den Fehler begehen, sie unbedacht zu gebrauchen und damit Unglück über andere zu bringen, wie er es schon so oft getan hatte.
Nachdenken, ja. Nur wo sollte er anfangen? Der Phönix frei. Lady Sarka tot. Die Welt war nicht mehr dieselbe wie heute Morgen noch, und in seinem Kopf herrschte solch eine Verwirrung, dass er keinen klaren Gedanken fassen konnte.
Also saß er da und ließ die Zeit verstreichen. Irgendwann fielen ihm die Augen zu. Er schlief nicht, war jedoch auch nicht richtig wach. Bilder huschten an ihm vorbei, Erinnerungen an die vergangenen Stunden, Tage, Wochen, begleitet vom Knistern des Feuers, den fernen Schreien des Phönix und dem Raunen der Stadt, das sich anhörte wie das Wispern erwachender Träume in den Seelenhäusern.
Gebüsch raschelte.
»Hier bist du«, sagte Liam. »Wir dachten schon, du wärst fortgegangen, in die Traumlanden oder so.«
Er setzte sich neben ihn. Jackon blinzelte die Schläfrigkeit fort.
»Da hinten, Ibbott Humes alter Schuppen«, meinte der Blonde. »Da haben wir uns das erste Mal getroffen, weißt du noch? Hume hat dich aufgefordert, mir Werkzeug und eine Schürze zu geben.«
Jackon musste grinsen. »Eine Krähe kam rein, und du hast dich zu Tode erschreckt.«
»Ja. Verdammte Biester. Na ja, die Zeiten sind wohl vorbei. Ohne Corvas sind Krähen wieder einfach nur Krähen, schätze ich.« Liam räusperte sich. »Jedenfalls wollte ich dir sagen, dass ich dir dankbar bin. Es war sehr mutig von dir, gegen Lady Sarka anzutreten. Ich hätte das nicht gekonnt.«
»Mit Mut hatte das nichts zu tun. Es ist ja nicht so, dass ich eine Wahl gehabt hätte.«
»Doch, hattest du. Lucien hat mir erzählt, dass sie dich überreden wollte, die Seiten zu wechseln. Es wäre einfacher für dich gewesen, darauf einzugehen. Um ehrlich zu sein, habe ich befürchtet, dass du das tun würdest. Aber du hast ihr widerstanden. Du bist viel stärker, als wir alle gedacht haben.«
Verlegen scharrte Jackon mit dem Stiefelabsatz über die Pflastersteine. »Ich bin nicht stark. Die meiste Zeit habe ich mir vor Angst fast in die Hosen gemacht. Ich habe immer Angst, verstehst du? Jeden Tag, seit ich weiß, dass ich ein Traumwanderer bin. Und jetzt auch noch die ganzen Kräfte von Lucien. Ich weiß nicht, wie ich das alles schaffen soll.«
»Früher warst du allein, aber jetzt hast du uns. Vivana, Lucien, Ruac, mich. Wir helfen dir schon, damit klarzukommen.«