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»Ich war schon einmal hier«, antwortete Lucien geheimnisvoll. »Komm. Wir müssen da lang.«

Als sie zu einem der Ausgänge der Kaverne liefen, trat plötzlich eine Gestalt ins Zwielicht und verstellte ihnen den Weg.

»Nicht so hastig, Freunde«, sagte Silas Torne. »Wo wollt ihr denn hin?«

Der Alchymist hielt einen Dolch in der Hand. Die Klinge bestand aus einem grünen, durchsichtigen Material und wirkte so scharf wie gesplittertes Vulkangestein.

»Bist du mir etwa nachgeschlichen?«, fragte Jackon.

»Mein Junge, du bist ein lausiger Lügner. Hast du wirklich gedacht, ich kaufe dir deine lächerliche Geschichte ab? Ich weiß, was hier läuft. Aber da habt ihr die Rechnung ohne den alten Silas gemacht. Niemand wird mir Lucien wegnehmen. Umbra nicht, und erst recht nicht du.«

Torne lächelte dünn. Das Glasmesser glitzerte. Langsam kam er näher und sah dabei aus wie eine von bösen Kräften belebte Vogelscheuche.

Als Jackon noch voller Panik überlegte, was er jetzt tun sollte, sprang Lucien nach vorne und stach mit seinem Dolch zu. Allerdings hatte er seine alte Schnelligkeit noch längst nicht zurückerlangt, und Torne wich mühelos aus. Die beiden Männer rangen miteinander, prallten gegen die Wand und fielen zu Boden. Torne wälzte sich auf Lucien und holte mit dem Glasmesser aus, doch der Alb hielt seinen Arm fest.

»Worauf wartest du?«, rief Lucien. »Hilf mir, verdammt!«

Jackon kämpfte sein Entsetzen nieder und stürzte sich auf den Alchymisten. Der schrie vor Wut und riss seine Hand los, die grüne Klinge blitzte auf. Das Messer schrammte über Jackons Arm.

Lucien machte sich Jackons Angriff zu Nutze und federte hoch. Er verpasste Torne einen Tritt, der diesen zu Boden schleuderte. Jackon wollte sich auf ihn werfen, aber der Alchymist rammte ihm die Faust ins Gesicht und legte in den Schlag eine Kraft, die man dem ausgezehrten und entstellten Mann niemals zugetraut hätte. Jackon rollte ächzend über den Boden.

Benommen sah er, dass Lucien ihrem Gegner den Dolchknauf gegen den Hinterkopf schlug. Torne sackte zusammen und rührte sich nicht mehr.

Jackon griff nach seinem Dolch und rappelte sich auf »Ist er tot?«

»Keine Ahnung.« Luciens Brust hob und senkte sich heftig. Der kurze Kampf musste ihn sehr erschöpft haben.

»Du bist ja verletzt«, sagte Jackon, als er einen blutenden Schnitt auf Luciens Handrücken bemerkte.

»Halb so wild. Wie geht's deinem Arm?«

Jackon untersuchte den Kratzer. Ein wenig Blut quoll daraus hervor. Dafür, dass die Wunde nicht viel mehr als eine Schramme war, brannte sie wie Feuer. »Tut ziemlich weh, aber ich werde es überleben.«

»Vielleicht hat uns jemand gehört. Sehen wir zu, dass wir verschwinden.«

Sie packten den Alchymisten an Armen und Beinen und legten ihn in die Zelle. Er atmete noch, wie Jackon erleichtert feststellte. Er hatte schon genug Unheil angerichtet; er wollte nicht auch noch für einen Mord mitverantwortlich sein.

Nachdem er die Tür abgeschlossen hatte, hasteten sie durch die Höhlen. Als sie an einer der Treppen vorbeikamen, die zu den höher gelegenen Kellergewölben führten, lief Jackon hinauf und holte eine Karbidlampe. Er musste nicht lange danach suchen – neben jedem Kellerzugang standen welche bereit.

Wenig später erreichten sie den Tunnel, von dem Lucien gesprochen hatte. Die glasartigen Wände gingen in gewöhnliches Mauerwerk über, und am Rand des blauen Glühens erahnte Jackon eine eisenverstärkte Tür. Zu seiner Erleichterung sah er nirgendwo Spiegelmänner.

Lucien griff nach dem Türknauf, doch die Tür war abgeschlossen. »Jetzt bräuchte ich mein Werkzeug.«

»Warte mal.« Jackon zückte den Schlüsselbund und versuchte sein Glück. Der fünfte Schlüssel passte.

Als er ihn umdrehte, überkamen ihn plötzlich Zweifel, ob er das Richtige tat. Ich habe Lucien zur Flucht verholfen, und Silas Tarne kann das bestätigen. Die Folgen werden schrecklich sein, wenn Lady Sarka davon erfährt. Will ich das wirklich? Noch kann ich umkehren. Ich könnte Lady Sarka beichten, was ich getan habe, und hoffen, dass sie mir verzeiht. Aber wenn ich durch diese Tür gehe, gibt es kein Zurück mehr. Ich schlage mich damit endgültig auf die Seite Liams – auf die Seite ihrer Gegner. Und was Feinde Lady Sarkas zu erwarten haben, weiß ich ja jetzt.

Sein Mund wurde trocken. Tu es, na los!

»Worauf wartest du?«, fragte Lucien ungeduldig.

Jackon hielt den Atem an, gab sich einen Ruck und öffnete die Tür.

Er hatte es getan! Er hatte sich ein für alle Mal von Lady Sarka losgesagt.

Sie traten in den alten Tunnel, wo der unverkennbare Modergeruch der Katakomben sie umfing. Jackon schloss die Tür, als ihn auf einmal schwindelte. Blinzelnd lehnte er sich gegen die Wand.

»Alles in Ordnung?«, fragte Lucien.

»Ich weiß nicht... Irgendetwas stimmt nicht.«

»Ja. Geht mir auch so. Ich glaube, das liegt an Tornes Messer.«

»Das Messer?« Jackon wurde kalt. »Meinst du, es war vergiftet?«

»Schlimmer, fürchte ich.« Lucien nahm ihm die Lampe aus der Hand und zündete sie an. »Komm. Wir müssen weiter.«

Jackon eilte ihm nach. »Schlimmer? Was meinst du mit schlimmer?«

»Torne hat dir mit dem Messer deine Kräfte gestohlen.«

»Was?«

»Deine Traumfähigkeiten. Ich fürchte, sie sind weg.«

»Bist du sicher?«

»Ziemlich.«

»Aber wie hat er das gemacht?«

»Das war kein gewöhnliches Messer. Eher ein alchymistisches Folterinstrument. Torne hat sich große Mühe damit gegeben.«

»Und sie sind jetzt für immer weg?«

»Unwahrscheinlich. Die Wunde ist kaum der Rede wert. Ich schätze, wenn sie verheilt ist, kehren deine Kräfte zurück.«

»Wie lange dauert das?«

»Schwer zu sagen. Ein paar Tage vielleicht.«

Keine Traumfähigkeiten mehr. Widersprüchliche Gefühle erfüllten Jackon, als er über die Konsequenzen dieser unerwarteten Wendung nachdachte. Einerseits Angst, denn seine Kräfte waren inzwischen so sehr Teil von ihm, dass er sich nicht vorstellen konnte, ohne sie zu leben. Andererseits Erleichterung, schließlich hatten sie ihm bisher nichts als Ärger und Leid eingebracht.

Sie liefen durch die Dunkelheit. Der Strahl der Karbidlampe huschte über feuchtes Mauerwerk.

»Moment mal«, sagte Jackon. »Du wurdest doch auch verletzt. Was ist mit deinen Kräften?«

»Dreimal darfst du raten.«

»Sie sind weg?«

»Du hast es erfasst.«

»Deine ganzen Albenfähigkeiten? Du kannst dich nicht mehr unauffällig machen und so?«

»Keine Unauffälligkeit mehr. Und auch keine anderen Kräfte. Bis die Wunde verheilt ist, bin ich einfach ein stinknormaler Kerl mit seltsamen Haaren, kapiert?« Lucien blieb abrupt stehen. »Du hast das Messer doch mitgenommen, oder?«

»Nein. Hätte ich das tun sollen?«

»Wir können es nicht einfach da liegen lassen. Es enthält unsere Kräfte. Wer es findet, stellt womöglich etwas damit an. Wir müssen noch einmal zurück.«

»Das geht nicht«, sagte Jackon. »Es ist zu gefährlich.«

Lucien biss die Zähne zusammen und starrte in die Richtung, aus der sie gekommen waren. »Verdammter Mist!«, fluchte er schließlich und lief weiter auf ihr ursprüngliches Ziel zu.

An einer Abzweigung blieb er stehen und leuchtete mit der Lampe in den Gang. Ratten flohen vor der Helligkeit in Spalten und Löcher.

»Ich glaube, zum Ministerium geht es da lang«, sagte Jackon.

»Ich weiß. Ich habe nur überlegt, ob es nicht besser wäre, zuerst nach Vivana zu suchen. Sie war nicht im Versteck, als die Spiegelmänner auftauchten. Du weißt nicht zufällig, ob man sie festgenommen hat?«

Jackon schüttelte den Kopf.