Jackon hob den Kopf und blickte ihn fragend an.
Liam hielt ihm die Hand hin. »Freunde?«
Er ergriff sie lächelnd. »Freunde.«
Allmählich brach der Abend herein. Jackon und Liam erinnerten sich an ihre gemeinsamen Wochen im Palast und lachten über ihr Abenteuer in der Kanalisation, und für eine Stunde oder zwei fühlte sich Jackon wieder so unbeschwert wie damals, als er einen endlosen Sommer lang mit Liam im Garten gearbeitet und keine Sorgen gekannt hatte.
Als es dunkel wurde, kam der Phönix zurück. Liam sprang auf und lief zu den anderen. Jackon dagegen blieb noch einen Moment sitzen. Er betrachtete den flammenden Streif am Himmel und wünschte, der Phönix hätte sich noch einen Tag Zeit gelassen, oder wenigstens ein paar Stunden, denn tief in seinem Innern wusste er, was nun geschehen würde.
Traurig stand er auf und stapfte über den Rasen.
Der Phönix landete auf einer alten Statue, und der Schein seiner Flammen tauchte den Garten in flackerndes Licht und tanzende Schatten. Die Hitze, die er verströmte, war derart stark, dass Jackon und seine Freunde sich ihm nur bis auf zwanzig Schritt nähern konnten.
Als er sprach, spürte Jackon seine Stimme mit jeder Faser seines Körpers.
Mahoor Shembar.
Der Untote, der sich seit ihrer Flucht aus dem Palast vor der Mittagssonne im Gebüsch versteckt hatte, erschien zwischen den Bäumen und trat vor.
Einst hast du versucht, mich mit Tücke und Zauberei zu versklaven. Dafür habe ich dich bestraft. Nun ist dein Frevel gesühnt. Ich erlöse dich.
Ich danke dir, wisperte der Nigromant.
Ein kühler Hauch schien durch Bäume und Blätter zu streichen, als Mahoor Shembars Seele den welken Körper verließ. Der Untote legte sich aufs Gras und zerfiel binnen weniger Augenblicke zu Staub. Die böse Macht, die er verströmte, verschwand. Jackon hoffte, dass Mahoor Shembar den Frieden fand, nach dem er sich gesehnt hatte.
Was wollt ihr hier?, donnerte der Phönix.
Jackon bemerkte eine Bewegung am äußersten Rand des Lichtscheins und sah Gestalten über die Palastmauer klettern. Geschmeidig wie Raubtiere der Nacht sprangen sie in den Garten und huschten den Hügel herauf.
»Ghule!«, rief er.
Entsetzt fuhren sie alle herum. Umbra knurrte einen Fluch, griff nach ihrer Pistole und fluchte noch einmal, als ihr auffiel, dass sie die Waffe im Palast gelassen hatte. Die anderen halfen Quindal und Khoroj dabei, zu fliehen.
»Wartet«, hielt Lucien sie zurück. »Sie sind nicht unseretwegen hier.«
Mit angehaltenem Atem beobachtete Jackon die Ghule. Es sah ganz so aus, als hätten es die Untoten tatsächlich nicht auf seine Freunde und ihn abgesehen. Sie warteten zwischen den Bäumen am Rand des Rasens, obwohl der Feuerschein des Phönix sie blenden musste. Einige zischten voller Schmerz und schützten ihre Augen mit den Klauenhänden.
Ihre Reihen teilten sich, und ein Ghul in einem zerschlissenen Anzug und mit einem durchlöcherten Zylinder auf dem Kopf erschien. Obwohl Jackon ihn noch nie gesehen hatte, wusste er augenblicklich, dass es sich um den Madenkönig handelte, den Anführer der Untoten.
Wieso sind sie hier?, fragte er sich voller Unbehagen. Hat die Rückkehr des Phönix sie angelockt?
Eine Woge aus heißer Luft brandete durch den Garten, als der Feuervogel seine Schwingen spreizte.
Ihr seid Diebe und Mörder. Ihr habt Yvain Sarka geholfen, mich in Ketten zu legen und zu ihrem Sklaven zu machen. Und nun wagt ihr es, mir unter die Augen zu treten?
Das Wispern der Ghule klang wie raschelndes Herbstlaub im Wind.
Vergebung? Nein. Für euch gibt es keine Vergebung. Ihr seid dazu verdammt, bis in alle Ewigkeit das Licht der Sonne zu fürchten und in Dunkelheit und Kälte zu wandeln. Ihr sollt niemals Frieden finden.
Als die Ghule abermals um Gnade flehten, fiel Jackon etwas ein, das Umbra ihm vor einigen Wochen anvertraut hatte: Lady Sarka hat den Phönix aus der Stadt gelockt und gefangen. Ein paar Banditen aus Torle haben ihr geholfen. Plötzlich begriff er. Der Phönix hatte die Banditen verflucht, als Strafe für ihren Frevel, wie einst Mahoor Shembar. Sie wurden untot, flohen in die Katakomben und fristeten von nun an ein Dasein als leichenfressende Monster.
Ein Schauder lief ihm über den Rücken. Was für ein schreckliches Schicksal.
Verschwindet, sagte der Phönix. Kriecht zurück in die Dunkelheit und kehrt nie wieder.
Jackon trat vor, obwohl die Hitze das Atmen zur Qual machte. »Schick sie nicht weg. Ich weiß, sie haben dir etwas Furchtbares angetan, und sie verdienen ihre Strafe. Trotzdem möchte ich dich bitten, sie zu erlösen.«
Der Phönix neigte ihm seinen Kopf entgegen, als müsse er Jackon erst eingehend betrachten, bevor er ihn einer Antwort für würdig befand. Warum sollte ich das tun, Traumwanderer? Mahoor Shembar hat seinen Frevel Jahrhunderte gesühnt und sie erst wenige Jahre. Und ihr Verbrechen wiegt schwerer.
»Aber du strafst damit nicht nur sie! Weißt du, was sie tun? Sie streifen nachts durch die Kanäle und fressen die Schlammtaucher. Wenn du wirklich der Wächter von Bradost bist, kannst du das nicht zulassen!«
»Jackon!«, warnte Lucien.
Der Phönix richtete sich zu seiner vollen Größe auf, und für einen Moment fürchtete Jackon, er werde ihn vor Zorn mit einem Flammenstrahl vernichten.
Sie jagen die Bewohner der Kanäle?
»Ja. Ich war früher selbst ein Schlammtaucher. Ich weiß, wie es ist, immerzu Angst vor den Ghulen zu haben.«
Das habe ich nicht gewollt. Wenn ihre Strafe Unschuldige trifft, ist es die falsche Strafe. Aber nun sag mir, Traumwanderer – was soll ich stattdessen mit ihnen tun?
»Erlöse sie von deinem Fluch. Sie haben doch nur getan, was Lady Sarka ihnen befohlen hat. Wahrscheinlich wussten sie gar nicht, was sie damit anrichteten.«
So soll es sein. Ich gebe eure Seelen frei. Findet Frieden.
Mit einem letzten Flüstern sanken die Ghule und ihr Anführer zu Boden. Ihre Leiber vertrockneten innerhalb weniger Augenblicke, bis auch von ihnen nur noch Staub übrig war.
Stille herrschte im Garten. Schließlich sagte der Phönix: Ihr alle habt geholfen, mich zu befreien. Dafür stehe ich in eurer Schuld. Gibt es etwas, das ich für euch tun kann?
»Wie du weißt, dringen überall Dämonen in unsere Welt ein«, ergriff Lucien das Wort. »Kannst du die Risse in den Mauern des Pandæmoniums schließen und die Träume heilen?«
Das übersteigt meine Macht. Aber es gibt jemanden, der das vermag.
»Wer?«
Der Traumwanderer.
Jackon schloss die Augen. Er hatte es gewusst. »Wie soll ich das anstellen?«
Du hast grosse Macht. Du trägst jetzt die Kräfte eines Schattenwesens in dir.
»Aber ich bin allein! Lady Sarka und Aziel haben doch bewiesen, dass ein Einzelner die Träume nicht beherrschen kann, und wenn er noch so mächtig ist. Man braucht die Hilfe der Alben.«
Die Alben haben entschieden, eure Welt zu verlassen. Ich kann sie nicht zurückholen. Ausserdem neigt sich das Zeitalter der Schattenwesen dem Ende zu. Yvain Sarka hatte in einem Recht: Es ist nun die Aufgabe der Sterblichen, über die Träume zu wachen. Du musst Menschen auswählen, die dir dabei helfen.
»Welche Menschen?«, fragte Jackon.
Deine Helfer brauchen magische Kräfte die sie befähigen, einige Traumfähigkeiten zu lernen. Es ist deine Aufgabe, ihnen diese Fähigkeiten zu verleihen und sie darin auszubilden. Es wird viele Monate dauern, aber wenn du es gewissenhaft tust, wird es euch gelingen die Träume zu heilen, und die Risse in den Mauern des Pandæmoniums werden sich schliessen.