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»Dann mal los«, murmelte er.

Liam saß auf der Steinbank und rieb mit dem Daumen über das Gehäuse der goldenen Taschenuhr. Sie war erstaunlich gut gepflegt. Er ließ den Deckel aufschnappen. Darin befand sich das Bild einer jungen Frau. Sie war blass und recht hübsch. In ihren blauen Augen lag ein Hauch von Sehnsucht.

Nein – Traurigkeit, dachte er. Sie hat gerade von jemandem Abschied genommen.

Lucien und Vivana tauchten auf und setzten sich zu ihm. Vivana schob ihren Arm unter seinen und legte ihren Kopf auf seine Schulter.

»Was hast du da?«

»Eine Uhr. Ich habe sie bei den Sachen des Madenkönigs gefunden. Wahrscheinlich hat er sie einem armen Opfer abgenommen, bevor er es gefressen hat.«

»Die Uhr gehörte ihm«, widersprach Lucien. »Aziel hat sie ihm zurückgebracht, als Lohn, dass die Ghule ihm geholfen haben, den Palast anzugreifen.«

»Wer ist die Frau?«

»Vermutlich das Mädchen, das er geliebt hat, als er noch ein Mensch gewesen ist.«

»Konnte er sich an sie erinnern? Ich dachte immer, die Ghule wüssten nicht mehr, wer sie zu Lebzeiten waren.«

»Ein Teil von ihm wahrscheinlich schon. Sonst hätte er nicht von Aziel verlangt, die Uhr zu finden.«

Liam klappte den Deckel wieder zu. »Will sie jemand haben?«

»Behalte sie ruhig«, sagte Vivana.

Er steckte sie in seine Tasche. Es erschien ihm wichtig, sie aufzubewahren, obwohl er nicht recht erklären konnte, wieso. Vielleicht weil ihn die Uhr immer an eine Epoche erinnern würde, die heute zu Ende ging.

»Du bist immer noch traurig, oder?«, fragte Vivana sanft.

»Ich frage mich, ob unser Sieg nicht zu teuer erkauft war.«

»Wir haben einen hohen Preis gezahlt«, stimmte Lucien zu. »Livia und Godfrey und viele andere sind gestorben. Jackon ist fort. Auch der Phönix wird nicht mehr lange bleiben. Aber das können wir nicht ändern. Wir haben getan, was wir konnten. Wir müssen jetzt in die Zukunft schauen.«

»Ja«, murmelte Liam. »Da hast du wohl Recht.«

»Seht mal, die Leute«, sagte Vivana.

Liam hob den Kopf und bemerkte, dass die Gassen der Altstadt voller Lichter waren. Offenbar hatten die Menschen begriffen, was geschehen war, und feierten die Vernichtung der Dämonen und das Ende von Lady Sarkas Herrschaft.

Von überallher strömten Fackelzüge zum Phönixturm. Freudengesänge erfüllten die Straßen.

»Wunderschön, nicht wahr?«, sagte Vivana und ergriff Liams Hand. »Es ist lange her, dass es in Bradost Hoffnung gegeben hat.«

Schweigend betrachteten sie das Lichtermeer und die feiernden Menschen, lauschten ihren Liedern. Etwas lag in der Luft, eine prickelnde Erregung, die von Haus zu Haus, von Gasse zu Gasse sprang wie ein elektrischer Funke. Liam konnte förmlich spüren, wie Angst und Verzweiflung, die Bradost so viele Jahre fest im Griff gehabt hatten, verschwanden und etwas Neuem Platz machten. Zuversicht, dachte er. Vertrauen in die Zukunft.

Dafür hatte sein Vater gekämpft, dafür hatte er sein Leben gegeben. Liam schloss die Augen und sah ihn so klar und deutlich vor sich, als stände er auf dem Rasen, sah sein Lächeln, sein zerzaustes blondes Haar, die Güte in seinen Augen. Er wünschte, sein Vater könnte jetzt hier sein und erleben, dass sich sein Traum von einem freien Bradost erfüllte.

»Habt ihr euch schon überlegt, was wir jetzt tun?«, fragte Vivana unvermittelt.

»Wie meinst du das?«

»Na, was wir jetzt mit unserem Leben anfangen. Es wird höchste Zeit, dass wir uns darüber Gedanken machen, findest du nicht? Also, wie soll es weitergehen, Liam Satander?«

Er musste lange über Vivanas Frage nachdenken. Was fange ich nun mit meinem Leben an? Es musste Monate, wenn nicht Jahre her sein, dass er sich dies gefragt hatte. Bis vor einem halben Tag hatte er nicht einmal gewusst, ob er überhaupt eine Zukunft besaß.

Er war zu Tode erschöpft. Er war niedergeschlagen von all dem Leid, das er gesehen hatte. Die Angst steckte ihm immer noch tief in den Gliedern, und die Begegnung mit dem Phönix hatte ihn zutiefst erschüttert. Er war so durcheinander, dass er kaum einen Plan für die nächsten Stunden fassen konnte, geschweige denn für sein restliches Leben. Und doch verspürte er plötzlich einen unbändigen Lebenshunger, eine Lust auf die Zukunft, als hätte die ausgelassene Stimmung in den Straßen ihn angesteckt.

»Ich denke, ich ziehe wieder in die Sternwarte«, sagte er. »Sie muss dringend renoviert werden, und der Blitzfänger könnte auch die eine oder andere Reparatur vertragen. Hilfst du mir?«

»Klar doch«, antwortete Vivana.

»Und dann – mal sehen. Ich schätze, ich handele wieder mit Blitzen. In ein paar Jahren, wenn ich genug Geld gespart habe, kaufe ich mir ein Luftschiff und werde Aeronaut. Wir könnten Fracht und Passagiere befördern und in der Welt herumreisen, wann immer wir Lust dazu haben. Was hältst du davon?«

»Eine großartige Idee!«

»Und du? Was willst du machen?«

»Zuerst möchte ich Madalin und die anderen suchen«, sagte Vivana. »Kommt ihr mit?«

»Ehrensache«, antworteten Liam und Lucien wie aus einem Mund.

»Wenn sie wieder in Bradost sind, studiere ich in Ruhe Livias Bücher, damit ich ihre Nachfolge antreten kann. Ich habe mit Umbra gesprochen. Sie will das Kommando über die Regimenter übernehmen und den Riss abriegeln, damit keine neuen Dämonen nach Bradost kommen. Ich möchte ihr helfen – Zaubersprüche nutzen ihr mehr als Pistolen und Gewehre. Gemeinsam mit dem Phönix sollten wir es schaffen, sie zurückzuschlagen, bis der Riss sich schließt. Und dann wären da noch die Besessenen. Irgendwer muss sich um sie kümmern.«

»Welche Besessenen?«, erkundigte sich Liam.

»Die stärkeren Dämonen haben sich Menschen gesucht und ihre Körper gestohlen. Die Soldaten haben einige gefangen genommen, doch Umbra vermutet, dass es noch viel mehr gibt. Vermutlich verstecken sie sich im Kessel. Ich werde die anderen Manuschwahrsager in Bradost bitten, mir zu helfen, die Besessenen zu finden und die Dämonen auszutreiben.« Sie blickte Lucien an. »Und du?«

Auch Lucien musste lange überlegen. »Ich glaube, als Erstes verkaufe ich Caitlins Haus.«

»Bist du sicher?«, fragte Vivana überrascht.

»Es ist an der Zeit, mit gewissen Dingen abzuschließen.« Er lächelte. »Ich bin jetzt sterblich, weißt du? Ich habe nicht mehr ewig Zeit. Ich will mein restliches Leben nicht damit verbringen, der Vergangenheit nachzutrauern. Danach werde ich versuchen, mich nützlich zu machen. Dein Vater hat angekündigt, er wolle so schnell wie möglich einen neuen Magistrat auf die Beine stellen und Wahlen abhalten. Ich denke, ich helfe ihm dabei. Beim Aufbau einer neuen Republik braucht er gewiss Unterstützung. Und es schadet sicher nicht, wenn die Schattenwesen, die noch da sind, jemanden haben, der sich für ihre Interessen einsetzt.«

»Du willst die Schattenwesen im Magistrat vertreten?«, fragte Liam.

»Warum nicht? Sie sind genauso Bürger Bradosts wie die Menschen. Sie haben ein Recht darauf und müssen besser vor Leuten mit üblen Absichten geschützt werden. Vielleicht kann ich Nestor überzeugen, ein Amt für Angelegenheiten der Schattenwelt einzurichten. Hätte es so etwas vor zehn Jahren gegeben, wäre es Lady Sarka womöglich nicht gelungen, den Phönix einzufangen und die Alben aufzuwiegeln.«

Nun, da Liam angefangen hatte, mit seinen Freunden Pläne zu schmieden, konnte er gar nicht mehr aufhören. Ihm kamen ständig neue Ideen, was er anpacken könnte. Zum ersten Mal seit langer Zeit hatte er das Gefühl, nicht bloß Opfer einer feindlichen Welt und Spielball höherer Mächte zu sein, sondern die Chance zu haben, sein Leben in die eigene Hand zu nehmen.

Ihm war, als würde er bersten vor Energie. Er stand auf, ergriff Vivanas Hände und zog sie von der Bank. »Kommt! Fangen wir endlich an zu feiern.«