Die Kirchenglocken von Kalkutta sandten ihre verhallenden Schläge bis hierher. Als Stineway sich erhob, war es zehn Uhr geworden. Das Papier, das er beschrieben hatte, war ausgegangen. Und so bekritzelte er auch noch die Ränder der neuesten Zeitung, die er zufällig bei sich hatte. »Ein Skandal«, sagte er. »Eine Ungeheuerlichkeit. Und Ihr seid fest davon überzeugt, daß Hastings über diese Dinge Bescheid weiß?«
»Er weiß nicht nur Bescheid, er ist der Urheber. Er und Impey stecken unter einer Decke. Das Recht wird beim Obersten Gerichtshof in Kalkutta mit Füßen getreten. Der einzige Wahlspruch, der über all diesen Handlungen steht, lautet: Recht ist, was einzig und allein der Kompanie nützt.«
Stineway steckte sorgfältig die beschriebenen Seiten und die Zeitung in seine Ledertasche. »Ihr also, den man den Pfeifer nennt, seid jetzt auf der Flucht.«
»Ja«, sagte Michel. »Fragt einmal in Kalkutta nach, weshalb man ein ganzes Rifleregiment nach Islamabad und Kumilla entsandt hat. Die Soldaten sollen uns dort fangen. Das heißt, sie sollen uns den Fluchtweg an der Küste abschneiden. Für uns gibt es nur eine Rettung, nämlich hier zu warten, bis den Herrschaften das Suchen nach uns zu langweilig wird. Ich hoffe, ich kann mich auf Eure Verschwiegenheit verlassen.« Der lange Engländer sah empört auf.
»Kein Mensch erfährt von mir ein Sterbenswörtchen. Bin doch mal gespannt, was die Londoner sagen, wenn sie diesen Bericht serviert bekommen. Ich darf doch von Euch als dem Pfeifer sprechen?«
»Das dürft Ihr. Ihr braucht nichts zu verschweigen als unser augenblickliches Versteck. Allerdings — bis der Artikel in London ist, sind wir sicherlich längst über alle Berge.« »Ja, das Original. Aber Mylady bat mich doch, dem Generalgouverneur eine Kopie zu schicken. Na, wir können das so machen, daß ich aus der Kopie den Namen des Augenzeugen weglasse. Das wird am einfachsten sein.« Michel reichte ihm die Hand.
»Ihr werdet der Menschlichkeit damit einen Dienst erweisen. Ein unerschrockener Zeitungsmann ist mindestens soviel wert wie eine ganze Armee.« Stineway schüttelte herzlich des Pfeifers Rechte.
»Ich danke Euch wirklich für die Story. Sie wird in Schlagzeilen erscheinen. Und mein Chef wird es dann verstehen, für mich in London größere Vollmachten zu erwirken, so daß ich hier in Indien tatsächlich tun kann, was mir beliebt.«
Ojo holte die Pferde, und Marina sagte mit leuchtenden Augen zu Micheclass="underline" »Bis morgen, Miguel. Unternehmt nichts bis dahin.« Michel trat ganz nahe zu ihr und flüsterte:
»Euer Gedanke mit der Kopie für Hastings war genial. Ich schätze, wir können hier in Ruhe abwarten.«
Dann stoben die Pferde in die Nacht hinaus.
18
Es war drei Tage später, als Sir Warren Hastings auf seinem Schreibtisch einen an ihn persönlich gerichteten Brief fand. Es war ein einfacher Umschlag von grüner Farbe, wie ihn kleine Geschäftsleute verwandten. Er wollte ihn schon beiseite legen, um die darin enthaltene Post von seinem Sekretär bearbeiten zu lassen. Aber irgendeine Laune veranlaßte ihn zum öffnen. Er fand einen engbeschriebenen Brief, der sich bei genauerem Hinsehen als ein Leitartikel, Manuskript oder etwas ähnliches entpuppte. Auf einem besonderen Bogen aus besserem Papier standen in steiler Handschrift folgende Zeilen :
Dear Sir:
In der Anlage findet Ihr die Kopie eines Berichtes, der in den nächsten Wochen im »Daily Courant« erscheinen wird.
Hochachtungsvoll! R Stineway
Indian Korrespondent des »Daily Courant«
Hastings schüttelte anfangs den Kopf über den lustigen Einf all dieses Zeitungskorrespondenten. Was sich die Leute wohl so dachten? Ob der Mann wohl im Ernst annahm, daß er, Hastings, das seitenlange Geschreibsel tatsächlich lesen würde?
Hastings überflog spaßeshalber die ersten Zeilen. Plötzlich schwand das Lächeln von seinen Zügen. Seine Augen flogen mit Hast über das Papier. Dann knallte seine Faust auf den Tisch.Eine Weile saß er mit starrem Gesichtsausdruck da, bis er den Bericht wieder in den Fingern hielt. Er las ihn zum zweitenmal.
»Unerhört! Unverschämte Provokation«, murmelten seine Lippen.
Da stand es, schwarz auf weiß, und es war vermutlich schon auf dem Weg nach London. Im letzten Absatz hieß es:
Seine Herrlichkeit, der Herr Generalgouverneur, und sein treuer Freund, der Oberrichter Impey, finden anscheinend nichts dabei, Recht wider das Recht zu sprechen. Da befreit ein anständiger Mensch den jungen Radscha aus dem brennenden Palast und rettet ihn vorm Flammentode, damit der Herr Generalgouverneur und der Oberrichter sowohl den Retter als auch den Radscha in ihr Gefängnis in Kalkutta werfen können. Wir Korrespondenten hier warten noch heute auf das Urteil im Prozeß gegen Seine Hoheit, den Radscha von Bihar. Es ist und bleibt eine Schande für Englands Namen, wenn solche Abenteurer wie Seine Herrlichkeit Macht über Leben und Tod der Fürsten eines Volkes haben, dem sie doch abendländische Kultur und Zivilisation bringen sollen. Wir fragen unsere Leser, was sie von der Aburteilung oder auch nur von der Verhaftung eines Fürsten halten, der nichts weiter getan hat, als die Steuern herunterzusetzen, seinen Bauern damit ein besseres Leben zu ermöglichen und sich zu weigern, die untragbar hohen Tribute in die sauberen Taschen der Herren von der Ostindien-Kompanie fließen zu lassen. Sobald das Urteil im Prozeß gegen den Radscha gesprochen ist, werden wir weiter berichten.
Hastings sprang auf. Er riß an der Klingelschnur. Die Ordonnanz stürzte herein.
»Sir Elijah--ich lasse Sir Elijah Impey bitten, sofort zu mir zu kommen. Schickt mir vorher noch Mr. Ten-nessy und Sir Edward William.«
Der junge Offizier hatte seinen Herrn und Meister noch nie in einer solchen Verfassung gesehen.
Er knallte mit den Hacken und rannte davon, um seine Aufträge zu erledigen.
Sir Warren stapfte durch das Zimmer, daß der Deckel des Tintenfasses auf seinem Schreibtisch klirrte. Immer wieder griff er zu dem Brief, der ihn mit magischer Kraft anzuziehen schien. Sir Warren hatte viel erlebt, seit er Clive auf diesem Posten abgelöst hatte. Er vergegenwärtigte sich, wie übel man Clive vor dem Parlament in London mitgespielt hatte. Clive hatte ganz Maisur für die Kompanie erobert. Er hatte Rohilkand den Nordwestprovinzen einverleibt und Teile von Radschputana dazugewonnen. Es hatte ihm alles nichts genützt. Die öffentliche Meinung war stärker als er. Er hatte gehen müssen. Und war bis heute noch nicht rehabilitiert.
Die Ordonnanz kam und meldete William und Tennessy.
»Ich lasse bitten.«
Die beiden traten ein und wunderten sich über das schlechte Aussehen ihres Chefs. Hastings reichte ihnen das Schreiben und sagte: »Hier, meine Herren, lest.«
William griff nach dem Papier und setzte sich umständlich die Brille auf. Tennessy ging zu einem Sessel, um sich dort niederzulassen, bis William ihm den Brief geben würde. Aber damit war Hastings keineswegs einverstanden.»Lest ihn gemeinsam, meine Herren, strengt euch ein wenig an. Er ist es wert.«
Und dann lasen sie. Ihre Gesichter wurden immer röter, und ihre Bewegungen immer hastiger. Tennessy trat von einem Fuß auf den anderen. Mindestens dreimal nahm Sir Edward William die Brille ab, um sie sofort wieder aufzusetzen. Dann endlich ließ er das Schreiben sinken. »Was sagt Ihr dazu?« kam Hastings Stimme.
»Unglaublich«, sagte William. »Man muß den Schreiber dieser Zeilen verhaften.«
»Und Ihr?« wandte sich der Generalgouverneur an Tennessy.
Tennessy zuckte die Schultern und machte eine wegwerfende Geste.
»Pah, ein Zeitungsartikel, dummes Geschwätz. Zeitungen schreiben immer Unsinn.«
»Ich glaube, diese Ansicht werdet Ihr langsam berichtigen müssen. Ihr unterschätzt die Macht der Presse. Seit diese rebellischen Amerikaner angefangen haben, in ihren Zeitungen Politik zu machen, ist die Presse ein Machtfaktor geworden. Bedauerlich ist nur, daß unsere Verleger auf der Insel den Aufständischen auf der anderen Seite des Ozeans so schnell gefolgt sind.«