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Der Angerufene drehte sich um und sah, wie der kleine Inderboy, einen großen Umschlag über dem Kopf schwenkend, die Treppe heraufkam.

»Scheint heute Briefe zu regnen«, murmelte Stineway vor sich hin.

Er nahm das umfangreiche Kuvert und verschwand damit in seinem Zimmer. Der Briefumschlag trug Wappen und Siegel des Generalgouverneurs.

Aha, dachte Stineway, das dicke Ende kommt immer nach. So sieht also eine amtliche Vorladung aus.

Er riß den Umschlag auf und fand — ein Handschreiben Seiner Herrlichkeit. Dazu fielen drei weitere Einladungen heraus. Die Extraumschläge, in denen sie steckten, waren mit Namen versehen. An Mr. Michael Baum, stand auf einem. Auf dem anderen, an Captain Jardin und auf dem dritten, an Mr. Diaz Ojo.

Aus dem Handschreiben, das in liebenswürdiger Form gehalten war, ging hervor, daß Stineway diese drei Einladungen an die Empfänger weiterleiten sollte, da man leider nicht über deren gegenwärtige Anschrift verfüge. Ergänzend wurde noch mitgeteilt, daß die Herren getrost kommen könnten; denn in einem Revisionsverfahren, das bereits vor ihrer Flucht aufgenommen worden war, habe sich ihre Unschuld, wie nicht anders zu erwarten, erwiesen. Stineway war sprachlos. Eine solche Wirkung seines Berichtes hätte er nicht für möglich gehalten. Es wunderte ihn, daß man in dem weit von Europa entfernten Kalkutta die immer stärker werdende Macht der Presse richtig einschätzte. Plötzlich wurde ihm siedendheiß.

Was stand da — — Revisionsverfahren? Das bedeutete doch, daß nun sein Artikel gar nicht mehr den Tatsachen entsprach, daß man der Schärfe der Anklage dadurch glatt den Wind aus den Segeln genommen hatte.

»Teufel, Teufel«, Stineway lachte plötzlich laut und schallend. »Wozu doch ein wenig Whisky und ein wenig Nachlässigkeit gut sind«, brummte er vor sich hin.

Er faltete das Schreiben von allerhöchster Hand zusammen, steckte es in die Tasche, vergaß auch die Einladungen nicht und verließ pfeifend das Hotel.

Zwanzig Minuten später hielt der Kuli mit der Rikscha vor dem indischen Gasthaus, in dem Marina wohnte.

Die vier saßen in der Halle und tranken Mokka.

»Hallo, Mr. Stineway«, sagte Marina freudig und winkte ihn heran. »Setzt Euch und trinkt einen Mokka mit! Vielleicht beflügelt das starke Zeug Euern Geist zu neuer Schöpfung.« »Danke«, lachte Stineway. »Ich glaube, es ist etwas Großartiges im Werden. Hier, lest.« Marina nahm das Handschreiben, betrachtete kopfschüttelnd die drei Einladungen und fragte: »Werdet Ihr daraus schlau?«

»Und ob, Mylady! Es dürfte wohl die Wirkung der Kopie meines Berichtes sein.«

»Und Ihr glaubt, daß sich unsere drei Freunde auf das Wort Hastings' verlassen können?«

»Oh, davon bin ich überzeugt. Sie werden dort so sicher sein wie auf ihrem Schiff.«

Marina sah nach dem Datum der Einladung. Sie war erst am Wochenende fällig.

»Bis dahin kann sich noch viel ereignen«, sagte sie. »Vielleicht bewirkt Euer Bericht gar, daß man auch dem Radscha Gerechtigkeit widerfahren läßt.«»Das ist so gut wie sicher. Schließlich sind ja in dieser Geschichte Mr. Baum und seine Freunde nur Nebenfiguren. Es widerspräche der

Praxis und wahrscheinlich auch dem füchsischen Verstand des ehrenwerten Impey, die Kleinen laufen zu lassen und den Großen zu hängen. Ihr könnt Euch darauf verlassen, daß der Prozeß zugunsten des Radschas ausgehen wird.«

»Ihr meint also, daß das Gericht in freier Entscheidung einen Freispruch fällen wird? — Aber hört, damit fiele ja die ganze Wahrheit der Meldung im »Daily Courant« zusammen! Obwohl die Verhaftung an sich schon eine unerhörte Provokation ist, werden sich die Engländer auf der Insel, die keine Ahnung von den Zuständen in Indien haben, doch damit zufriedengeben, wenn sie sehen, daß das Gericht unbeeinflußt Recht spricht. Die ganze Story wird zum Gegenteil umschlagen und den Glanz der Gerechtigkeit um die Häupter dieses Hastings und dieses Impey noch verstärken.«

»Hauptsache ist, wir erreichen unser Ziel. Die Story an sich bleibt für meinen Verleger und auch für den Leser als Augenzeugenbericht aus Indien immer noch interessant genug.« »Aber in diesem Fall könnte vielleicht die zu scharfe Formulierung Eurer öffentlichen Anklage schaden. Sie war ja scharf. Daran gibt es keinen Zweifel.«

Der lange Engländer lachte verschmitzt. Dann beugte er sich näher zu Marinas Ohr und flüsterte: »Mir wird die Angelegenheit nicht einen Jota von meiner Ernsthaftigkeit nehmen. Ganz im Vertrauen, ich habe nämlich vergessen, das Original abzuschicken. Als ich mit seiner Abfertigung fertig war, habe ich mir ein paar Gläser Whisky zuviel genehmigt, bin dann sanft entschlummert und dachte erst bei Erhalt der Einladung wieder daran. Nun, ich werde noch ein paar Tage warten, bis alles entschieden ist, und die Story dann umschreiben. Wäre mächtig gespannt auf die langen Gesichter der Herren von der Obrigkeit, wenn sie später einmal diese Ausgabe des »Daily Courant« lesen.«

20

Der Kommandeur des Rifleregiments, dessen Truppe die Gegend um Islamabad absperrte, knurrte ärgerlich. Er hatte soeben von Sir Edward William eine Kurierbotschaft erhalten, in der folgende Sätze standen:

» ... und so ersuche ich Euch, mir einen Eurer jungen Offiziere zu schicken, der zu einer geheimen Sonderaktion alle Fähigkeiten besitzt. Er darf ruhig ein klein wenig skrupellos sein; auch wenn er ein paar Pfund Schulden hätte, wäre er nicht der schlechteste Mann. Laßt einen Zug Eurer jüngsten Soldaten unter dem Kommando eines Sergeanten in Islamabad und kehrt mit dem übrigen Regiment in Euern Standort zurück. Eure Aufgabe ist beendet.«

Der im Dienst ergraute Oberst schüttelte den Kopf.

»Albernheit«, brummte er. »Weshalb gibt man mir nicht direkte Instruktionen! Immer diese Geheimniskrämerei! Na, mir ist's recht. Mary und Anne werden nicht böse sein, wenn ich wieder nach Hause komme.« Er rief seinen Adjutanten und fragte ihn:

»Ihr kennt doch die jüngeren Offiziere im Regiment besser als ich?« »Yes, Sir.«

»Well, dann denkt einmal scharf nach. Ich braucheeinen, dessen Gewissen nicht gar zu eng ist, so einen Kerl, der auch einmal fünf gerade sein läßt. Dazu muß er Unternehmungslust besitzen und eine kleine Truppe selbständig führen können.« »So ein Wundertier gibt es bei uns nicht.«

»Ach, macht keine Sprüche. Irgendwo ein kleiner Gauner in Uniform muß sich doch finden lassen. Seit wann sind die Offiziere der Kompanie Engel?«

Der Adjutant dachte eine Weile angestrengt nach. Dann erhellte sich seine Miene.

»Wir haben da neulich einen jungen Oberleutnant zugeteilt bekommen, dessen Garnison bislang in der Provinz war. Er ist nicht zimperlich. Seine Soldaten sind oft gar nicht mit seiner Art einverstanden. Er macht den Eindruck, als wollte er jeden Inder totschlagen.«

»Hmmm«, machte der Oberst gedehnt. »Ich habe keine Ahnung, ob er eine Aktion gegen die Eingeborenen durchführen soll. Na, versuchen wir es. Wie ist sein Name?«

»Adam Roach.«

»Well, dann schickt mir den Adam.«

Der Adjutant machte eine Ehrenbezeigung und verließ den Raum.

Kurz darauf trat Adam Roach ein. Er war ein finster blickender Geselle und sah eher wie ein Fuhrknecht aus. Die Uniform wollte sich dem vierschrötigen Körper gar nicht recht anpassen. Seine Augenbrauen waren über der Nasenwurzel zusammengewachsen. Sein Haaransatz reichte bis tief in die Stirn. Das Kinn war brutal vorgeschoben. Die Nase mußte einmal einen Hieb abbekommen haben. Sie sah aus wie das Riechorgan eines Faustkämpfers. Dem Oberst war dieser Offizier bisher so gut wie unbekannt gewesen. Flüchtig mochte er ihn irgendwo einmal gesehen haben. Auf alle Fälle fuhr er einen Schritt zurück, als er in die Visage des jungen Mannes blickte.