Ojos verkrampfte Miene hellte sich auf, als einer der Diener mit einem Tablett voller Gläser vor ihm stehenblieb. Ojo langte nach einem Whisky. Der dienstbare Geist wollte weitergehen. Da Ojo nicht wußte, was auf englisch »warten« hieß, hielt er ihn einfach am Ärmel fest. Mit der rechten Hand setzte er das Glas an, trank es mit einem Zug leer, stellte es auf das Tablett zurück, ließ den Diener los und griff gleich zwei Gläser. Der Lakai war bestürzt. Aber seine gute Erziehung gewann die Oberhand. Er blieb höflich und zog sich zurück. Michel und Stineway unterhielten sich.Da kam Hastings auf sie zu und tat, als bemerkte er sie jetzt erst. Jovial reichte er ihnen die Hand und sagte: »Freut mich, Gentlemen, euch bei mir zu sehen.« Er wandte sich an Michel und fuhr fort: »Ich hoffe, Doktor Baum, Ihr habt die kleine Unannehmlichkeit vergessen und verziehen.Ihr wißt, auch der gerechtesten Justiz unterläuft hier und da einmal ein kleiner Irrtum.« Michels Augenlider verengten sich zu einem Spalt. »Da wir gerade miteinander sprechen, gestattet eine Frage.« »Bitte?«
»Bekommt Captain Jardin sein Schiff wieder?«
Hastings stutzte. Man sah deutlich, daß er darauf nicht vorbereitet war.
»Wir können darüber noch sprechen, Mr. Baum. Aber nicht heute und hier. Wir haben ja noch soviel Zeit.«
»Ihr vielleicht. Wir nicht. Wir haben genug Wochen hinter Gefängnismauern versäumt.« Hastings hatte eine Ausrede gefunden.
»Äh — ja — wenn Ihr meint? Ihr werdet Euch aber wohl doch gedulden müssen, bis die »Lundi« wieder im Hafen liegt. Sie ist zur Zeit auf Fahrt.«
»Das wollte ich nur wissen. Ihr laßt also Schiffe für Euch fahren, die Euch gar nicht gehören.
Das ist, gelinde gesagt, eine eigenartige Methode der Schiffsraumbeschaffung.«
»Nun ja, nun ja. Wir sprechen noch darüber. Habt Ihr die Absicht, nach Diamond Harbour zu gehen?«
»Ja«, sagte Michel fest und so schnell, daß ein weniger kluger Mann wie Hastings es geglaubt hätte. Der Generalgouverneur dachte: du schlauer Fuchs, ich weiß besser, wo entlang deine Straße geht.
Das Gespräch wurde durch den Stock des Zeremonienmeisters unterbrochen. Er schlug dreimal auf den Boden und verkündete mit lauter Stimme: »Seine Hoheit, der Radscha Tscham.«
Die Flügeltüren schwangen zurück, und Tscham trat ohne jedes Gefolge schnellen Schrittes in den Saal. Wie in alten Zeiten war er von Kopf bis Fuß in weiße Seide gehüllt. Aber seine Armut wurde dadurch offenbar, daß weder an seinem Gewand noch an seinen Händen ein einziger Brillant glitzerte. Dafür blitzten seine Augen drohend in dem fahlen, von der langen Kerkerhaft eingefallenen Gesicht. Die Damen und Herren der Gesellschaft hatten ihm samt und sonders ihre Blicke zugewandt.
»Ladies und Gentlemen«, sagte Tscham plötzlich mit heller Stimme, »ich nehme diesen Augenblick wahr, um den Gastgeber vor euch allen anzuklagen. Hastings hatdie Stirn besessen, mich nach all seinen Verbrechen, die er an meinem Volk und mir begangen hat, zu sich einzuladen. Ich weiß nicht, wem ich meinen Freispruch und meine plötzliche Freiheit verdanke. Ich weiß nur, daß eine größere Macht am Werke sein muß, eine Macht, vor der selbst Kreaturen wie Hastings und Impey Angst haben. Ihr werdet mich vielleicht für unhöflich halten, daß ich die eben genannten Gentlemen nicht mit ihren Titeln nenne. Nun, dazu kann ich sagen, daß eben diese Herren so unhöflich waren, einen indischen Fürsten wochenlang in ihrem schmutzigen Gefängnis schmachten zu lassen.«
Er richtete sich noch höher auf, streckte die Hand aus und wies mit dem Finger auf Hastings. »Ich bin jetzt frei. Ich weiß, daß Ihr es nicht wagen werdet, noch einmal Hand an mich zu legen. Bihar habt Ihr genommen, seine Schätze geraubt, seine Paläste zerstört und seine Menschen versklavt. Ihr konntet mich einsperren; aber den Geist Indiens könnt Ihr nicht brechen. Ich werde midi sofort einschiffen. Ich werde nach England gehen und beim König Klage gegen Euch erheben. Ich werde Euch in London bei Euren eigenen Mitbürgern anprangern. Ihr nennt Euch »Herrlichkeit«, aber Ihr seid nichts als ein elender Räuber und Handlanger von Krämern. Hoffentlich fallen Eure Schandtaten nicht einmal auf England zurück.« Er wandte sich dorthin, wo Michel stand und sagte: »Kommt, meine Freunde und Retter, wir werden die Gastfreundschaft dieses ehrenwerten Herrn Generalgouverneurs nicht länger in Anspruch nehmen.«
Damit wandte er sich um und verließ den Saal.
Hastings war kreidebleich geworden. Die Umstehenden senkten die Köpfe und blickten auf die Schnallen ihrer Schuhe. Sie waren nicht etwa verlegen, weil ihr oberster Herr von einem Knaben angeklagt worden war, sondern weil sie alle selbst kein reines Gewissen hatten. Impey, der in der Nähe von Hastings stand, war der einzige, der die Fassung behalten hatte. »Laßt ihn nach England gehen«, zischte er dem Generalresidenten ins Ohr. »Hoffentlich wird ihm der Weg nicht zu lang.«
Michel bedeutete Ojo und Jardin, ihm zu folgen, und verließ ebenfalls die Gesellschaft. Nach kurzem Zögern schloß sich auch Stineway an. Sie wollten dem Kutscher Weisung geben, nach Osten zu fahren; da aber sprang Tscham an ihren Wagen und flüsterte:
»Ins indische Hotel. Pferde, Proviant und alles, was wir brauchen, ist dort bereit. Die schöne Dame, eure Freundin, hat für alles gesorgt. Wir können sofort aufbrechen.«
»Das geht nicht«, sagte Michel, »unsere Sachen und vor allem mein Gewehr sind noch in der Hütte.«
»Nein. Eure Freunde haben dafür gesorgt, daß ihr alles im Hotel vorfindet. Wir brauchen also keine Zeit zu verlieren.«
Michel nickte sein Einverständnis.
Er gab dem Kutscher Weisung, zum Hotel zu fahren.
»Was wird mit Euch, Mr. Stineway?« fragte er den Engländer.
»Wenn Ihr nichts dagegen habt, begleite ich Euch. Ich glaube, mit Euch zusammen werde ich mehr Stories erleben, als der »Daily Courant« jemals drucken kann.« »Und Eure Sachen?«
»Pah, ich besitze nichts als einen Hut, und einen vernünftigen Anzug werde ich unterwegs auftreiben.«
»Also dann los«, sagte Michel. »Kutscher«, rief er, »fahrt dem Wagen des Radschas nach.«Als sie im Hotel ankamen, war alles bereit. Marina stürmte auf Michel zu.
»Gott sei Dank, Miguel, ich dachte schon, sie würden Euch wieder verhaften. Ich konnte den Jungen nicht überreden, sich seine Vorwürfe gegen Hastings für später aufzuheben. Nun aber auf die Pferde und fort!«
»Habt Ihr einen Gaul für Mr. Stineway?«
»Por Dios, ich konnte ja nicht wissen, daß er mitgehen würde! Aber wartet, ich werfe die Sachen von meinem Packpferd. Die Abendkleider und den ganzen Plunder brauche ich sowieso nicht.«
22
Die Pferde griffen in nordöstlicher Richtung aus. Die Flüchtlinge kamen in der Nacht zum Montag am Ufer des Padma an. So heißen Ganges und Brahmaputra nach ihrem Zusammenfluß, etwa fünfzig Meilen vor dem großen Delta. Eine schwierige Aufgabe lag vor ihnen. Sie mußten den hier sehr breiten, träge dahinfließenden Strom überschreiten. Damit war aber noch nicht alles getan. In den Deltaarm, Megna genannt, ergoß sich von Nordwesten her ein weiterer Strom, der dem Padma an Größe und Gewalt in nichts nachstand.
Erst nach Überwindung auch dieses Hindernisses konnten sie zwischen dem Bergland Tripura und dem Meer auf dem schmalen Küstenstreifen die birmaische Halbinsel erreichen. »Was nun?« fragte Marina und starrte auf die gelben Fluten. Tscham brachte sein Pferd dicht neben das des Pfeifers. »Wir müssen ein Floß bauen, mein Freund.«
Michel blickte sich um. In der Ebene standen nur ein paar vereinzelte Bäume. Ihr Holz hätte allerdings gereicht, um ein ganzes Schiff zu bauen; aber es waren Riesen mit großem Umfang, und niemand hatte daran gedacht, Äxte mitzubringen. Und selbst wenn solche dagewesen wären, wäre es fraglich gewesen, ob man diese Gebilde aus Urzeiten hätte überwinden können. »Woraus sollen wir dieses Floß bauen, Tscham?« fragte Michel. Tscham lachte.