Stineway stieß gurgelnde Laute aus und ruderte mit den Armen in der Luft. Es sah aus, als kämpfe er verbissen um sein Leben. Plötzlich kam ein Ruf von seinen Lippen.
»Himmel, wo ist meine Pfeife--die Pfeife ist weg--meine schöne Pfeife!«
Er fand Halt am Hals seines Pferdes, das sanft war wie ein Lamm. Es lief durch das Wasser und schleppte seinen Herrn bis auf den Strand. Nach und nach kamen auch die anderen ans Ufer.
Glücklicherweise schien die Sonne. Als das Notwendigste — so das Ausbreiten der naßgewordenen Sachen — getan war, sanken die meisten erschöpft zusammen und schliefen sofort ein.
Michel nahm seinem Pferd den Sattel ab und bettete Marinas Kopf darauf. Die Frau hatte sich ein wenig zuviel zugemutet. Sie schlief wie eine Tote.
»Mein Freund«, sagte Tscham, »jetzt endlich habe ich Gelegenheit, dir für alles zu danken, was du für mich getan hast. Ich weiß, daß ich nur durch dich meine Freiheit wiedererlangt habe.« Michel schaute ihn verwundert an.
»Du irrst dich, Tscham. Sicher, ich hätte alles getan, dich aus dem unwürdigen Loch herauszuholen; aber ich hatte keine Möglichkeit dazu. Daß der Prozeß zu deinen Gunsten ausgegangen ist, hast du einem anderen mutigen Mann zu verdanken.« Tscham blickte ihn fragend an. »Wem?«
»Diesem da.« Michel deutete auf den schlafenden Stineway. Tscham öffnete den Mund vor Staunen.
»Dem langen Engländer, der sich auf dem Floß so dumm angestellt hat? Du hältst ihn für mutig?«
»Auf seine Weise ist er ein tapferer Kerl. Er gibt auch einen anderen Mut als den, mit dem Heldentaten vollbracht werden. Mr. Stineway ist kein Held. Und er würde wahrscheinlich furchtbar lachen, wenn man ihn als solchen bezeichnen wollte. Aber er hat eine viel wichtigere Eigenschaft als Heldenmut und Todesverachtung. Er hat Zivilcourage. Diese Art des Mutes findet man auf der Welt viel, viel weniger als tapfere Generale und heldenmütige Ritter.« »Zivilcourage? Verzeih, ich kann mir unter diesem Begriff nichts Rechtes vorstellen.« »Wir haben ja Zeit. Ich will es dir erklären. Und ich will dir auch schildern, auf welche Weise dich der tapfere Mann aus den Klauen der Ostindien-Kompanie befreit hat.« Michel berichtete alles, was er wußte. Der Radscha lauschte seinen Worten mit Aufmerksamkeit.Als der Pfeifer geendet hatte, fragte er:
»Hat auch der englische König oder haben seine Generale vor einer Zeitung Angst?« »Wenn sie ein gutes Gewissen haben, dann brauchen sie keine Angst zu haben.« Es war Mittag geworden. Die ersten Schläfer erwachten. Der Pfeifer hielt die Zeit des Aufbruchs für gekommen. Er weckte die anderen.
»Habt Ihr meine Pfeife nicht gesehen?« fragte Stineway, noch schlaftrunken.
»Sie scheint Euch teurer zu sein als Euer Leben«, lachte Michel. »Ich kann Euch leider nicht helfen. Sie wird wohl längst im offenen Meer schwimmen.«
»Traurig«, sagte Stineway wehmütig, »wirklich traurig. Sie war das letzte Andenken an meine Mutter. Ich hätte sie nicht rauchen sollen.«
Er wandte sich ab, und Michel sah, wie er sich heimlich mit dem Handrücken über die Augen fuhr.
Ein Mensch, dachte Michel, — wenn es doch viele von dieser Art gäbe! Eine halbe Stunde später brachen sie auf.
23
Oberst MacFadian ritt an der Spitze des Rifleregiments, dessen lange Schlange sich auf Kalkutta zu bewegte.
»Der Teufel soll diesen Roach holen«, sagte er zu seinem Adjutanten. »So ein verflixter Geheimniskrämer!«
»Vielleicht hat er Order bekommen, zu niemandem, auch nicht zu Euch, über seinen Auftrag zu sprechen.«
»Papperlapapp! Dummes Zeug. Meint Ihr, der Generalgouverneur oder sein Stellvertreter hätten kein Vertrauen mehr zu Colonel MacFadian?«
Der Adjutant blieb eine Weile stumm. Nach langer Pause jedoch brach er das Schweigen wieder. »Ich weiß nicht, Colonel, ich habe ein ungutes Gefühl bei der Sache. Und ich muß Euch ehrlich sagen, ich bin gar nicht neugierig auf diesen Geheimauftrag. Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß.«
»Well, natürlich kann man sich Eurer Meinung anschließen. Aber diese Geheimhaltung vor mir wurmt mich doch. Wißt Ihr, was mir der Bursche zur Antwort gegeben hat, als er sich zurückmeldete und ich mich nach der Angelegenheit erkundigte?« »Nun?«
»Er wollte mir weismachen, daß er einen Eid habe leisten müssen, mit niemandem darüber zu sprechen! Und das mir, seinem eigenen Colonel ! — — Unverschämtheit!« »Wenn Ihr mir eine eigene Meinung dazu gestattet - -?« »Immer zu, sagt, was Ihr denkt.«
»Ich glaube daran, daß man ihn diesen Eid leisten ließ. Und eben darum möchte ich von dieser Sache auch gar nichts wissen. Und Ihr, Colonel, seid froh, daß man Euch unbehelligt ließ. Vielleicht ist es etwas, was unserer Auffassung vom Soldatsein nicht zuträglich wäre. Erinnert Ihr Euch nicht daran, daß in dem Kurierbrief von William ausdrücklich ein Mann verlangt wurde, der ein möglichst weites Gewissen haben sollte?«
»Das ist schon richtig. Aber um ehrlich zu sein, mich plagt ganz einfach die Neugier.« Das Gespräch war damit zu Ende. —
Derjenige, dessen Person der Gegenstand dieser Unterhaltung gewesen war, saß in Islamabad mit einem Sergeanten und zwei Korporalen zusammen in der Baracke, die ehemals die Schreibstube des Regiments beherbergt hatte. Vor den vieren war auf dem Tisch eine Generalstabskarte ausgebreitet, die nördlich vom Wendekreis des Krebses, südlich vom zweiundzwanzigsten Breitengrad nördlicher Breite, westlich von neunzigeinhalb Grad und ostwärts von zweiundzwanzig Grad östlicher Länge begrenzt wurde.
Adam Roach hielt einen Holzstab in der Hand und deutete auf die Stelle zwischen der Küste und den Ausläufern des unwegsamen Berglandes von Tripura. Dieser Streifen war an seiner schmälsten Stelle immer noch etwa fünfzehn Meilen breit.
»Hier«, sagte Roach, »müßten sie durchkommen. Durch die Berge werden sie nicht reiten; denn der Weg wäre äußerst beschwerlich. Sie müßten die Pferde am Zügel führen. Ich weiß mit Sicherheit, daß sie in die Gegend von Akjab wollen. Irgend jemand ist da, der ihnen von dort aus weiter hilft. Die Zusammenhänge kenne ich nicht, und sie interessieren mich auch nicht. Wir sind fünfundzwanzig Mann. In Abständen von je einem Kilometer werden wir uns über diesen Gebietsstreifen verteilen. Ich selbst werde auf dem südlichsten Felskegel der Tripuraberge — hier als Höhe zwölf markiert -Posten beziehen, weil man bei Tage von dort aus bis zur Küste blicken kann.«
Der Sergeant kratzte sich hinterm Ohr.
»Ihr hättet mehr Leute hier behalten sollen, Oberleutnant. Für einen so großen Geländestreifen sind wir viel zu wenig.« Roach runzelte die Stirn.
»Behaltet Eure Ansichten für Euch. Ich muß mich nach meinen Befehlen richten. Die lauten, daß ich mir einen Zug nehmen darf. Ein Zug sind fünfundzwanzig Mann. Das wißt Ihr so gut wie ich.«
»Ja, ja doch«, brummte der andere. »Ich meinte ja man auch nur.«
»Schon gut. Merkt Euch eins: wir müssen diese Burschen kriegen. Es sind Kollaborateure, die mit diesen hindustanischen Schuften zusammenarbeiten, Spione wahrscheinlich, oder was weiß ich.«
»Die vier Männer waren doch in Kalkutta, nicht wahr?« fragte ein gewitzter Korporal. »Weshalb hat man sie da nicht gleich verhaftet?«
»Schweigt! Ihr seid ein Dummkopf. Es wird schon Gründe dafür geben. Die Kompanie kann es sich nicht leisten, sich in diplomatische Verwicklungen zu verstricken, wenn sie die vier Lumpen offiziell verhaftet und verurteilt. Aber aus der Welt müssen sie geschafft werden. Das erfordert die Sicherheit des Landes.«
Man sah dem Korporal an, daß ihn diese Erklärung keineswegs befriedigte. Dennoch schwieg er; was bedeutete schon die Meinung eines Korporals gegen die eines Oberleutnants. »Angenommen«, meinte jetzt der Sergeant, »die Burschen brechen nachts durch, man bemerkt sie also nicht früh genug, wenn überhaupt, was sollen wir dann machen?« »Um euch genaue Instruktionen zu geben, habe ich euch ja hergerufen«, antwortete Roach unwirsch. »Wir haben also von der Küste bis zur Höhe zwölf auf jedem Kilometer ungefähr einen Mann. Die fünf Leute am linken Flügel, dem Stück, das der Küste am nächsten liegt, erhalten gelbe Raketen. Die nächsten fünf grüne. Die nächsten blaue, die vierten orange und die, die am nach-sten bei mir sind, rote. Wenn die vier Burschen kommen, schießt der, dem sie am nächsten sind, seine Rakete ab. Auf diese Weise haben wir den ganzen Sektor in fünf Abschnitte eingeteilt und wissen, zu welchem Abschnitt wir eilen müssen, um sie — — na, das wird ja dann die Situation ergeben. — Alles klar?« Die drei Soldaten nickten.