Die Nachkömmlinge dieser Bandanesen bildeten zur Zeit, da unsere Freunde zu den Inseln kamen, den Hauptbestandteil der Bevölkerung. Es gab auch schon einige Weiße und einige Araber dort; aber diese lebten nur auf der Hauptinsel. Die ganze Inselgruppe erstreckte sich fast hundert Meilen lang und war den größeren Arus vorgelagert.
Bis zu dieser Zeit wußte kein Weißer zu sagen, wie viele Kei-Inseln es in diesem Raum gab. Die einzelnen, kleineren Inseln waren vielfach durch Korallenriffe und scharfe Brandungen für jedes Boot unzugänglich.
Die Sonne ging unter, als »Trueno«, »Mapeika« und »Dimanche« vor einer der Inseln die Anker warfen.
Es war eine kleine, wild überwucherte Insel, deren ungewöhnlich hoher Bergkegel einem Vulkan glich, der seine Tätigkeit seit langem eingestellt hatte; denn bis zur Spitze des Berges stand dichter Wald.
»Ein schönes Plätzchen«, sagte Marina spöttisch. »Habt Ihr eine Vorstellung, Senor Virgen, wie wir da herankommen sollen, ohne uns den Rumpf an den Riffen aufzureißen?« Virgen beugte sich wieder und wieder über die Seekarte. Dann warf er unmutig den Zirkel auf den Tisch und meinte:
»So geht es nicht. Die Karte kann uns nicht helfen. Vielleicht weiß Mutatulli Rat. Schließlich sind wir auf seine Veranlassung hierher gefahren.«
Mutatulli stand neben Michel an der Reling und starrte auf die Insel hinüber.
»Irgendwo müssen wir eine Einfahrt in den Archipel finden. Das ganze Wasser zwischen den Hunderten von Inseln und Inselchen wird ja nicht von Korallen durchzogen sein«, meinte Michel. Aber seine Worte klangen nicht sehr zuversichtlich.
Mutatulli verwünschte sich innerlich, daß er seine Retter hierher geführt hatte. Von der Vielzahl der Kei-Inseln hatte er bis zu diesem Augenblick keine Vorstellung gehabt. Wie sollte man in diesem Gewirr ausgerechnet jene finden, auf der Muskatnußbäume wuchsen und die noch keines Europäers Fuß betreten hatte? Die Aufgabe schien unlösbar.
»Ich glaube, ich habe einen Fehler gemacht, als ich Euch hierher führte«, sagte der Häuptling zögernd. »Ich schäme mich, daß ich nicht einmal meinen besten Freunden behilflich sein kann.« »Unsinn«, sagte der Pfeifer, »Ihr habt keine Veranlassung, Euch irgendwelche Vorwürfe zu machen. Jeder an Bord weiß, daß Ihr es gut gemeint habt. Und zudem soll man nicht gleich am ersten Abend die Hoffnung sinken lassen.«
Karo, der zu Füßen der beiden saß, streckte seinen Kopf hoch und rieb ihn an Mutatullis Beinen, als wollte er sein Verstehen für den von Skrupeln und Zweifeln geplagten Herrn kundtun. Mutatulli fuhr ihm mit der Hand über den Kopf und streichelte das treue Tier, von dem er sich nie mehr trennen würde.
Plötzlich ging ein Gedanke blitzartig durch seinen Kopf.
»Hört, Herr«, wandte er sich an Michel. »Ich habe vielleicht die Lösung gefunden, jedenfalls die Teillösung. Ich werde die Muskatnußinsel für Euch suchen. Den Weg in das Innere des Archipels allerdings müßt Ihr selber finden.«Michel blickte ihn zweifelnd an.
»Ich danke Euch für Euern guten Willen. Aber eine Vorstellung, wie Ihr ihn in die Tat umsetzen wollt, habe ich nicht.«
Mutatullis Augen leuchteten.
»Karo!« sagte er.
»Hm, er ist ein sehr gescheites Tier. Aber was kann uns der Hund dabei nützen?« »Er wird die Insel finden.«
»Nicht möglich, Mutatulli. Dazu müßte er wenigstens schon einmal dagewesen sein. Er hat doch keine Witterung davon. Und außerdem reicht die Witterung eines noch so vorzüglich ausgebildeten Schäferhundes niemals über breitere Wasserarme hinweg. — Ausgeschlossen.« Mutatulli blieb zuversichtlich.
»Ihr vergeßt, daß Karo auf einer Muskatnußinsel groß geworden ist. Zur Zeit der Reife liegt ein kaum merklicher, für eine gute Nase aber dennoch wahrnehmbarer Duft über der ganzen Insel. Hier unten ist die Reife wahrscheinlich schon vorbei; aber wenn nur Reste davon in der Luft zu spüren sind, so wird Karo sie wahrnehmen.«
»Und wie wollt Ihr ihn auf die Spur setzen, damit er überhaupt weiß, was er suchen soll?« »Ganz einfach. Wir zerkleinern eine Muskatnuß und halten sie ihm vor die Schnauze. Wir — —
Mutatulli sprang aufgeregt davon.
»Vielleicht schaffen wir es doch«, sagte Michel später zu Marina. »Wenn wir erst einmal innerhalb des Korallenringes sind, kann uns Mutatulli vielleicht helfen.« »Mit der Muskatnuß?« entgegnete Marina spöttisch.
Auch Senor Virgen und Jardin konnten ein zweifelndes Lächeln nicht unterdrücken. »Warum sollte es nicht gehen?« mischte sich Tscham ein. »Wir haben in Indien sehr kluge Hunde gehabt. Manche haben geradezu Wunder der Spürkunst vollbracht.« »Hoffen wir das Beste.« Marina behielt ihre Skepsis. — Am nächsten Morgen setzte um das Schiff herum ein emsiges Leben und Treiben ein. Die Boote wurden zu Wasser gelassen. Mit Stöcken und Rudern suchten die Männer das Meer ab, um festzustellen, wo sich Korallenriffe vor den Augen der Menschen heimtückisch verbargen, wo man eventuell eine Durchfahrt für die Segler finden konnte, damit sie in das Innere des Archipels gelangten.
74
Es wurde Mittag, ohne daß auch nur annähernd so etwas wie eine Fahrtrinne entdeckt wurde. Der Schweiß lief den Männern in Strömen von den Körpern.
»Es sieht so aus«, meinte Marina, »als sei unsere Sorge, die Muskatnußinsel zu finden, ganz ohne Belang gewesen. Solange wir hier festsitzen und nicht einfahren können, ist selbst Mutatullis Hund nutzlos.«
Senor Virgen stieg nach geraumer Zeit selbst in ein Boot und nahm ein Lot mit. Er befahl seinen Ruderern, ihn stets in steilem Winkel auf die Küste zuzurudern. Immer und immer blieb die Leine irgendwo hängen. Selbst wenn sie einmal glatt nachgezogen werden konnte, war doch einen halben Meter neben dieser Stelle wieder ein Hindernis. Stunde um Stunde verrann. Als es dunkelte, war man nicht weiter gekommen. »Wie wäre es, wenn wir den Plan aufgäben?« fragte Marina.
»Auch unsere Meinung«, schlossen sich Virgen und die Kapitäne der beiden anderen Schiffe an. »Wir richten hier nichts aus.«
Der Pfeifer spielte mit seinem Becher. Es schien, als starre er gedankenverloren vor sich auf die Tischplatte. Aber es schien nur so. In Wahrheit kam sein Kopf nicht eine Minute zur Ruhe. Er blickte auf. In seinen Augen stand großer Ernst. »Gut«, meinte er, »wir brechen ab. — Aber was dann?«
Niemand antwortete ihm auf diese Frage. Jeder wußte ja, daß sie unbedingt irgendein Handelsgut haben mußten, wenn sie weiter bestehen wollten.
»Wir können nicht aufgeben. Wir haben auch schon schwierigere Aufgaben bewältigt.«
»Vielleicht ist diese versteckte Muskatnußinsel nur ein Produkt der Phantasie Mutatullis«, wandte Marina ein. »Ich kann mir nicht recht vorstellen, daß die Holländer ausgerechnet auf dieser Insel vergessen haben, die Bäume auszurotten.«
»Man kann annehmen, daß sie sie bestimmt nicht übersehen haben!«
»Na also. — Was hat das Ganze dann für einen Zweck?«
»Daß wir doch welche finden werden«, sagte der Pfeifer. »Nach allen Erfahrungen, die ich bisher mit Eingeborenen gemacht habe, entstehen solche Legenden niemals aus dem Nichts. Leider oder Gott sei Dank messen die meisten Weißen solchen Erzählungen keinerlei Bedeutung bei. Und doch bin ich davon überzeugt, daß alle diese Geschichten ihre Richtigkeit haben.« »Aber Ihr stimmtet mir doch bei, als ich äußerte, daß die Holländer mit hoher Wahrscheinlichkeit reinen Tisch gemacht haben.«
»Ja. Nur vergeßt Ihr eins, Marina. Oft genug haben wir gehört, daß am Leben gebliebene Reste der Bandanesen nach den Kei-Inseln geflüchtet sein sollen. Stellt Euch einmal vor, Ihr flüchtet in diesem Zustand. Ihr könntet nichts mitnehmen, was Beständigkeit behält. Das einzige, dessen Wert Euch durch die Weißen klargemacht worden ist, wären Muskatnüsse gewesen. Hättet Ihr keine mitgenommen, um sie in neuem Boden zu säen?«