»Gütiger Himmel! Wie grauenvoll, aber sie hatte es mehr als verdient…«
»Das will ich meinen…! Obwohl ich niemals erfahren habe, ob ich recht daran getan habe oder nicht, das Gesetz in meine eigenen Hände zu nehmen. Sie weinte, trat um sich und flehte um ihr Leben, während die Diener zusahen, ohne einzugreifen. Sie haben wohl verstanden, wie berechtigt meine Gründe waren. Als alles vorbei war, bat ich meine alte Amme, sich um das Kind zu kümmern. Trotz allem war es ja mein Sohn und daher ein Kindersley, der ein volles Recht auf den Titel und das Vermögen der Familie hatte. Ich änderte meinen Namen und schiffte mich nach Jamaika ein.« Er stieß einen tiefen Seufzer aus. »Das ist jetzt schon über zwanzig Jahre her.«
»Eine traurige Geschichte«, entgegnete das Mädchen. »Grausam, traurig und bitter. Was ist aus deinem Sohn geworden?«
»Wie ich gehört habe, lebt er reich, glücklich und ohne Sorgen. Allerdings haßt er den >Stiefbruder<, der seine Mutter getötet hat, abgrundtief, ohne zu wissen, daß dieser in Wirklichkeit sein Vater ist.«
»Bist du nie auf die Idee gekommen, zurückzukehren und ihm die Wahrheit zu erzählen?«
»Und was hätte ich davon? Daß er statt meiner seine Mutter haßt! Er hält sich für den legitimen Sohn eines adeligen Greises und eines tugendhaften Mädchens, das seine Ehre gegen die lüsternen Angriffe eines verdorbenen Verwandten verteidigt hatte. Glaubst du, daß es recht wäre, wenn er erkennen müßte, daß er eigentlich der Bastard eines geständigen Mörders und einer skrupellosen Verbrecherin ist? Nein, das wäre nicht richtig, und glücklicher würde ihn das auch nicht machen.«
»Und macht es dir nichts aus, daß er dich haßt?«
»Überhaupt nicht. Ich weiß ja, daß die Gründe für seinen Haß auf einem Irrtum beruhen. Und ich liebe ihn. Schließlich ist er mein Sohn.«
»Trotzdem traurig zu wissen, daß dich dein eigener Sohn ohne Grund haßt. Hast du einen weiteren gezeugt?«
»Nicht daß ich wüßte. Du wirst verstehen, nach einer solchen Erfahrung ist mein Interesse an Frauen nicht gerade groß.«
»Nicht alle sind so.«
»Natürlich nicht!« räumte der Engländer ein. »Du bist das beste Gegenbeispiel, und bestimmt gibt es auch andere, die ebenso Respekt verdienen. Aber ich bin nun mal ein gebranntes Kind.«
»Erlaubst du mir eine letzte Frage?« fügte sie hinzu.
»Wenn es wirklich die letzte ist…!«
»Ganz bestimmt!« Sie machte eine kurze Pause und fragte sichtlich neugierig: »Hast du sie noch geliebt, als du sie erhängt hast?«
»Gehaßt«, lautete die trockene Antwort. »Trotzdem hätte ich in diesem Augenblick alles, was mir im Leben noch geblieben war, für eine einzige Nacht in ihren Armen hingegeben.«
Damit war für ihn die Unterhaltung beendet. Er murmelte etwas von dringenden Verpflichtungen, und Celeste sah ihm zu, wie er zum Hauptdeck hinunterging. Sie fragte sich, was für Gefühle in der Seele eines Menschen nisten mochten, der sich gezwungen gesehen hatte, eine Frau hinzurichten, die soviel in seinem Leben bedeutet hatte.
Anschließend ließ sie ihre Blicke über die vielen Männer wandern, die das Schiff klar für die Nacht gemacht hatten, die sich bereits auf dunklen Adlerschwingen näherte. Wie viele von ihnen mochten eine ähnlich verfluchte Geschichte mit sich herumschleppen? Schließlich waren Herkunft und Nationalität der Besatzung der Dama de Plata höchst unterschiedlich: Menschen aus allen möglichen Ländern, die aus dem einen oder anderen dunklen Grund im größten Sündenpfuhl der Welt gelandet waren, unter dessen Ruinen das meiste, was sie je besessen hatten, begraben lag.
Unter den ehrbaren Seeleuten und schlichten Abenteurern dieser Expedition gab es auch eine bedeutende Anzahl Glücksritter, Zuhälter, Spieler, Verbrecher und den einen oder anderen Piraten, der durch Celestes Sieb geschlüpft war. Von diesen Leuten konnte man alles erwarten — im guten wie im schlechten Sinn —, und man mußte sie unter eiserner Disziplin halten, wenn sich das mächtige Schiff nicht in ein riesiges Tollhaus verwandeln sollte.
Mit über tausend Tonnen Wasserverdrängung und fünf Aufbauten — eigentlich waren es sieben, wenn man Achterkastell und Sonnendach mitrechnete — boten die verschiedenen Freidecks, Deck- und Lagerräume des Schiffs unzählige verschlungene Gänge, Kammern und Verstecke. Die konnte man unmöglich alle kontrollieren, und wer war schon in der Lage, eine unschuldige Würfelpartie von einer Verschwörung zu unterscheiden, die das Ziel hatte, das Schiff an sich zu reißen und damit erneut auf Kaperfahrt zu gehen.
Die »gute alte Zeit« der karibischen Seeräuberei war zusammen mit Port-Royal untergegangen, aber im fast unbekannten Stillen Ozean wartete auf denjenigen, der den Mut hatte, sich in diese riesige Wasserwüste zu wagen, die ein Drittel der Erdoberfläche einnahm, eine verheißungsvolle Zukunft. Dort konnte man die Routen der mit Gold, Silber, Perlen, Seide, Gewürzen und Porzellan beladenen Schiffe kontrollieren, die von Mexiko, Peru und Panama nach China, Japan und zu den Philippinen fuhren: ein neuer, riskanter Warenfluß, der so wichtig war wie vor hundert Jahren die Route zwischen Spanien und den Antillen, vielleicht noch wichtiger.
Der südliche Ozean war für die Seefahrer Ende des 17. Jahrhunderts ein wahres Mysterium. Man munkelte von der Existenz eines ganzen unerforschten Kontinents an den Antipoden, und sicher war mancher Glücksritter der Meinung, mit einem so schönen Schiff wie der Dama de Plata diese Gewässer zu befahren, mußte wesentlich einträglicher sein, als Sklaven zu befreien.
»Wir müssen sehr auf der Hut sein«, sagte Kapitän Buenarrivo ein ums andere Mal, wenn man in der geräumigen Offiziersmesse zu Abend aß. »Paßt auf wie die Schießhunde, wenn euch das geringste Gerücht von Rebellion zu Ohren kommt. Diese Galeone ist ein zu verlockender Kuchen, und mehr als einer dieser verfluchten Kerle würde ihn sich nur zu gerne schnappen.«
»Im Augenblick sehe ich kein bißchen Aufruhr«, meinte Hauptmann Sancho Mendana dazu. Er hatte sehr engen Kontakt mit der Mannschaft, da er stundenlange Schießübungen veranstalten ließ.
»Wirbelstürme kommen aus heiterem Himmel.« Buenarrivos Baß hallte in dem großen Saal wie Donner. »Ein Kapitän muß immer auf der Hut sein, die Disziplin an Bord wahren und den ersten, der aufmuckt, kielholen lassen.« Dann lächelte er auf seine Weise und setzte viel leiser hinzu: »Sosehr wir das Schiff auch ausgeräuchert und desinfiziert haben, es stinkt noch immer nach Pirat.«
Nachdem man alle Sklaven an Land gebracht und die Maria Bernarda mitsamt ihren Flöhen, Wanzen und Läusen auf den Grund des Meeres geschickt hatte, gab es in jenen Gewässern nichts mehr zu tun. Celeste Heredia beriet sich ausgiebig mit den führenden Offizieren ihrer Crew, dann ließ sie die Anker lichten und befahl Kurs Afrika.
Die Überfahrt war ein quälend langes und beschwerliches Unterfangen. Gegenwinde zwangen sie immer wieder zu kreuzen und die Segel zu reffen. Manche lähmende Flaute hielt bis zu einer Woche an. Als sie bereits jedes Zeitgefühl verloren hatten, kam endlich eine schnurgerade flache Küste in Sicht, die sich in Richtung Südosten verlor. Mit ihrem dichten Regenwald unterschied sie sich auf den ersten Blick kaum von der Küste, die jetzt hinter ihnen lag.
Sie schien jedoch fast unbewohnt zu sein, da man vom offenen Meer aus kaum etwas erkennen konnte, was auch nur den Namen Ansiedlung verdient hätte. Die wenigen Hütten, die sich gelegentlich in winzigen Buchten abzeichneten, boten einen traurigen Anblick. Offenbar hatte man sie schon vor geraumer Zeit verlassen.
Als sie aber an einem heißen Nachmittag ein kleines niedriges Kap umrundeten, stießen sie plötzlich auf ein halbes Dutzend Kanus. Etwa zwanzig Eingeborene warfen ihre Netze auf dem ruhigen Wasser aus, flüchteten aber bei ihrem Anblick sofort derart panisch in Richtung Strand, als hätten sie kein Schiff, sondern den Leibhaftigen selbst erblickt.