In den Gesichtern der Mütter war tatsächlich abgrundtiefe Verzweiflung zu lesen.
Schmerz und Verzweiflung.
Und Angst in den Gesichtern der Kinder.
Panik wäre der richtigere Ausdruck gewesen!
Aber was konnten sie anderes tun?
Sich ewig verstecken?
Jedesmal in den tiefsten Urwald flüchten, wenn die Krieger MulayAlis auftauchten?
Selbst das nützte inzwischen nichts mehr, denn die Bluthunde der Krieger konnten jeder Spur im Urwald folgen.
Wenn ein Sohn zwölf Jahre alt geworden war, hing die Hoffnung der Mutter nur noch an einem seidenen Faden. Jeden Augenblick konnten mitten in der Nacht die Händler auftauchen und ihr den Sohn für immer entreißen.
Es gab kein Versteck für ihn.
Nicht einmal Verwandte, zu denen man ihn schicken konnte.
An keinem Ort war er sicher, weil Afrika, ganz Afrika, nur ein riesiges Jagdrevier war, in dem man Knaben einfing, die kräftig genug waren, um Zuckerrohr zu schneiden.
Es gab nur eine einzige Lösung.
Daß sie nicht in der Lage waren, in Amerika Zuckerrohr zu schneiden.
Daher fand einmal im Jahr an der Sklavenküste eine grausame Verstümmelungszeremonie statt.
Daher unterwarfen sich einmal im Jahr die meisten Knaben, die wegen ihres Alters oder ihres kräftigen Körpers Gefahr liefen, geraubt zu werden, freiwillig oder gezwungenermaßen dem schrecklichen Ritus, sich die rechte Hand abhacken zu lassen.
Und keiner zahlte dann noch einen roten Heller für sie.
Ein Schwarzer, der keine Machete schwingen konnte, brachte keinen Profit. Kein Pflanzer in Kuba, Jamaika oder Brasilien würde etwas für ihn bezahlen.
Und wenn kein Pflanzer sein Geld investierte, dann würde kein Kapitän eines Sklavenschiffs seinen wertvollen Stauraum an Bord an so minderwertige Ware verschwenden.
Aus diesem Grund bestand Celeste Heredia darauf, daß alle, bis zum letzten Schiffsjungen, an der so grausamen Zeremonie teilnehmen sollten.
»Ihr sollt mit eigenen Augen ansehen, in welch abgrundtiefe Verzweiflung wir diese Menschen getrieben haben, und ihr sollt ein für allemal verstehen, warum ich das alles tue«, sagte sie mit leicht zitternder Stimme. »Ich möchte, daß ihr euch vorstellt, wie es euch gehen würde, wenn ihr euch dazu gezwungen sehen würdet, euren Söhnen eine Hand abzuschlagen. Ihr sollt lernen, die Sklavenhändler so zu hassen wie diese bedauernswerten Mütter.«
Sie waren harte Männer: Zuhälter, Räuber, Piraten und vielleicht sogar Mörder, aber da war kaum einer, der nicht entsetzt das Gesicht abwandte, wenn sie sahen, wie eine Kinderhand in den Sand fiel, oder den es nicht schauderte, als er den Schmerzens schrei hörte, wenn man den blutenden Stumpf in kochendes Öl tauchte.
»Verdammte Hurensöhne!«
»Jawohl, verdammte Hurensöhne«, bekräftigte das Mädchen. »Die größten Hurensöhne, die es jemals gegeben hat, und mit diesen haben wir es tagtäglich zu tun.« Sie schaute sie herausfordernd an, und in ihren Augen war so viel Feuer und Zorn, daß manch einer eine Gänsehaut bekam. »Haltet ihr mich immer noch für verrückt?« fragte sie. »Ist dieser Schmerz nicht viel verrückter?«
Die meisten Männer der Dama de Plata sahen das nicht anders, denn zu jenen Zeiten war die Verstümmelungszeremonie der afrikanischen Kinder zweifellos mit das grauenvollste Schauspiel, von dem man im Lauf der Geschichte gehört hatte.
Es dauerte nicht lange, da gewöhnten sich die Sklavenhändler den barbarischen Brauch an, allen kleinen Jungen, die sie ohne rechte Hand aufgriffen, den Kopf abzuschlagen und ihnen diesen auf den Armstumpf zu nageln: als unmißverständliche Warnung, daß sie keine Lust hatten, sich ihr »Geschäft« mit solch absurden Tricks verderben zu lassen. Damit hoffte man wohl, daß mit der Zeit die barbarischen Verstümmelungen ihren Sinn verlieren würden.
Trotzdem lebt in den alten Urwaldlegenden der Sklavenküste noch immer die Erinnerung an jene düsteren Jahrhunderte fort, in denen die Frauen ihre Söhne weniger vor Krankheiten oder wilden Tieren schützen mußten, sondern besonders vor anderen Menschen, die sich gegen alle Gesetze der Natur in die schlimmste Geißel ihres Geschlechts verwandelt hatten.
Ebenso leben Riten und Erinnerungen an mysteriöse Geheimgesellschaften fort, denen nur Frauen angehörten: die »Bundü« oder die »Sonde«. Sie entstanden aus der Notwendigkeit, Kinder beschützen zu müssen, während die Männer entweder am anderen Ende der Welt waren oder die »Feinde« darstellten.
Und wie das so ist, wenn Frauen sich zum Töten gezwungen sehen, entstand der Kult des Gifts. Als den Afrikanerinnen klarwurde, daß sie es mit der Macht der Waffen nicht aufnehmen konnten, griffen sie auf eine List zurück. Sie suchten Verbündete und baten ihre alte Freundin, die Schlange, ihnen Mittel zur Verfügung zu stellen, um die Räuber ihrer Söhne zu vernichten.
Aus diesem Grund findet man in dieser Region auch 300 Jahre später immer noch die meisten Giftsorten. Man stellte Gifte her, die beim Beischlaf töteten, aber auch solche, die erst nach Monaten Wirkung zeigten und das Opfer immer schwächer werden ließen, bis es nur noch Haut und Knochen war.
In Quidah, das etwa 200 Meilen vom damaligen Ankerplatz der Dama de Plata am Meer liegt, steht der einzige Tempel, der dem Kult der Schlangen aus allen Winkeln des Kontinents geweiht ist. Dieser Tempel hat die Jahrhunderte überdauert und erinnert als stummer Zeuge daran, daß die Frauen der Yoruba noch immer entschlossen sind, ihre mörderischen Künste anzuwenden, wenn man neuerdings versucht, ihnen die Söhne zu rauben.
»Wehe dem, der vergißt, daß eine Frau, egal welcher Rasse, zuerst einmal eine Mutter ist!« sagte eine überzeugte Celeste Heredia in der Nacht, in der sie die grausame Zeremonie verfolgte. »Und wehe dem, der ihre Kraft unterschätzt! Heute bin ich sicherer denn je, daß wir im Kampf gegen MulayAli auf sie zählen können.«
»Hältst du noch immer an der absurden Idee fest, ihn in seinem eigenen Reich anzugreifen?« wollte Arrigo Buenarrivo wissen.
»Mehr denn je«, gab sie zu. »Sobald wir bereit sind, nehmen wir Kurs auf das Nigerdelta.«
Pater Barbas war bereits mit seinem Kanu aufgebrochen, um jeden Flußarm kritisch unter die Lupe zu nehmen. Zwar war der Venezianer immer noch skeptisch, was die Chancen betraf, in das Innere des Kontinents vorzudringen. Doch als die Sebastian klar zum Segeln war, befahl Celeste Heredia, den Aufbruch vorzubereiten.
»Wir werden etwa vierzig der tapfersten Frauen mitnehmen«, sagte sie. »Sie werden an Bord der Fregatte gehen, in Begleitung einiger Männer, denen wir voll vertrauen können. Wenn wir das Delta erreicht haben, werden wir sehen, was der Priester herausgefunden hat, und dementsprechend handeln.«
»Und wenn wir unterwegs eine etwas unangenehme Begegnung haben?« wollte der Venezianer wissen. »Wir segeln mit einem wehrlosen und einem schlecht bemannten Schiff.«
»Dann heißt es beten«, kam es ironisch zurück. Aber eilig fügte das Mädchen hinzu: »Ich glaube nicht, daß den Franzosen genug Zeit geblieben ist, Goree zu erreichen und mit Verstärkung zurückzukehren.«
Am folgenden Morgen wählten Celeste und die engagierte Yadiyadiara die Frauen aus, die sie begleiten sollten. Allen gestand sie eine Nacht zu, um sich von ihren Angehörigen zu verabschieden, denn alle waren überzeugt davon, daß sie niemals mehr an den Ort ihrer Geburt zurückkehren würden.
Sie wußten, daß sie es mit den Ibos zu tun bekommen würden, einem Stamm, den sie am meisten haßten und fürchteten. Sie würden in fernen Regionen am anderen Ende der Urwälder bis hin zu den Grenzen der Wüste kämpfen, in einem Gebiet, dessen absoluter Herrscher der wilde MulayAli war.
In dieser Nacht schlugen die Trommeln.
Viele unterschiedliche Trommeln, denn fast jedes Dorf und jede Hütte schickte ein herzliches Lebwohl an die Frauen, die einem sicheren Tod entgegengingen. Während Celeste den riesigen Mond betrachtete, der sich hinter den Wolken versteckte, um leuchtender denn je wieder hervorzutreten, fragte sie sich zum xten Mal, ob sie gut daran tat, so unschuldige Geschöpfe in ein Ungewisses Abenteuer zu schicken.