Der Schotte war degradiert worden, weil er für die Soldaten wesentlich mehr übrig hatte als für die Armee. Nach Afrika hatte ihn der Duft jungen Fleisches gelockt: »Appetitliche schwarze Schafe, die nur darauf warteten, verschlungen zu werden.« Nun fühlte er sich wie im siebten Himmel. Jetzt hatte er soviel junges Fleisch und so viele schwarze Schafe zur Verfügung, wie er nur wollte.
Er war ein großer, fast riesiger Dickwanst, der reichlich lächerlich aussah mit seinem karierten Schottenrock, seinem blütenweißen Hemd und seinem riesigen violetten Turban. Oberst MacLean fackelte nicht lange, das erste weiße »Vorbild« der vielen zu werden, die Jahrhunderte später Afrika im Sturm nahmen. Und es zeigte sich schon vom ersten Augenblick an, daß er sein Handwerk verstand. Wenn er nicht auf allen vieren zugange war, sondern aufrecht seine beneidenswerte Statur zeigte, dann war er in der Tat ein richtiger Mann mit Haaren auf der Brust.
Mit seiner Peitsche, dem langen sonnengebleichten Schwanz eines Teufelsrochens, seinen Riesenpranken und seinen polierten Pistolen, die an seinem Gürtel schimmerten und die er mit teuflischer Zielgenauigkeit abfeuerte, setzte er binnen Tagen eine eiserne Disziplin unter den »Soldaten« durch, die MulayAli unter den Sklaven zu »rekrutieren« pflegte. Letztere wurden entweder mit einem Brandzeichen auf der Brust in eine unbekannte Welt verschifft, aus der niemand jemals wiederkehrte, oder hatten die Chance, mit einem Brandmal auf dem Arm zur Elite eines zukünftigen Expeditionskorps zu gehören, das gut bewaffnet und noch besser ernährt wurde. Da fiel die Wahl nicht schwer.
Gleichzeitig hatte der helle Mulatte alle möglichen Informationen über das Festland gesammelt. Er befragte die Sklaven oder zog den arabischen Händlern Auskünfte aus der Nase. Zwei Jahre nach dem schrecklichen Tod von Gaston Barriere war der Sohn dann in der Lage, endlich den kahlen Felsen zu verlassen, auf dem er bis dahin seine schwierige Existenz gefristet hatte.
Er bemannte ein halbes Dutzend Sklavenschiffe, die auf der Suche nach Handelsware gekommen waren, und befahl ihnen, an den offenen Stränden von Cotonou zu landen. Von dort aus fiel er wie ein Falke über die ahnungslose Seestadt Ganvie her. Deren mächtiger König, KujamiSawam, hätte sich nicht einmal im Traum vorstellen können, daß tausend bis an die Zähne bewaffnete Männer sich plötzlich auf die angeblich sicherste Stadt des Kontinents stürzen könnten.
Denn Ganvie war ein primitives Venedig, eine Pfahlsiedlung inmitten eines Sees. Dieser war von hohen Schilffeldern umgeben: einem Labyrinth aus Wasserschleifen und Kanälen. Daher galt die Stadt mit Recht als einer der unzugänglichsten Orte der Welt. Kein Feind konnte auch nur so nahe herankommen, daß er aus der Ferne die stolzen Bauten hätte ausmachen können.
Trotzdem überwand eine große Armee langer Kanus mit je zwanzig Sklaven des eigenen Volks, die KujamiSawam früher einmal an einen Händler der Haussa verkauft hatte, still und heimlich die tausend Biegungen der riesigen Lagune und erschien vor der schönen Seestadt, als fast alle ihre Einwohner friedlich in der mörderischen Mittagshitze schliefen.
Was folgte, war ein regelrechtes Massaker.
Drei Stunden später färbte das Blut von zweihundert YorubaKriegern die Kanäle der Stadt rot, und der eben noch so stolze und mächtige KujamiSawam hing mit dem Kopf nach unten am höchsten Ausguck seines primitiven Palasts und mußte hilflos dabei zusehen, wie eine Bande brutaler Wilder seine dreißig Frauen und 45 Töchter immer wieder schändeten und mißhandelten.
Am nächsten Tag ließ MulayAli ihn in einen großen Käfig knapp über der Wasseroberfläche stecken, in dem an die zwanzig hungrige Schweine grunzten und quiekten.
KujamiSawam starb erst nach einer halben Stunde, als ihn die Bestien bereits größtenteils verschlungen hatten, und noch heute, dreihundert Jahre später, lebt sein Tod in der Erinnerung als schlimmste Agonie fort, die jemals ein König der Region erdulden mußte.
Von diesem Tag an war Ganvie die erste Hauptstadt des jungen Reichs von MulayAli. Unter dem Befehl des tatkräftigen und fixen lan MacLean drangen seine Heere immer tiefer in die angrenzenden Territorien vor. Bei ihrer Rückkehr stießen sie lange Reihen von Schwarzen in Ketten vor sich her.
Die Fähigsten durften ihre Zukunft selbst wählen, der Rest wurde gegen Gold, Gewehre, Pulver und Kanonen eingetauscht. Und sofort startete man eine neue Razzia, die sie schließlich bis ans Ufer des großen Niger führte.
»Hier liegt die Zukunft«, urteilte der schlaue, Schotte, als er seinen Blick über die riesige Wasserstraße schweifen ließ. »In Ganvie werden wir immer nur Sklavenjäger sein, aber wenn wir uns hier niederlassen, dann gründen wir ein wahres Imperium. Der Niger ist die Lebensader der Region.«
MulayAli brauchte vier Monate, um sich zu entschließen, die Wasserwelt von Ganvie aufzugeben, in der er sich wohl fühlte. Einen ersten Schritt machte er schließlich, weil er davon überzeugt war, daß ihn andernfalls seine eigenen Leute in seinem zerbrechlichen Seereich seinem Schicksal überlassen würden.
»Wenn ein Sohn heranwächst, müssen wir ihm neue Sandalen geben«, gab ihm der weise Marabut zu bedenken, den er aus Ibadän hatte kommen lassen. »Und wenn er nicht wächst, verknöchert er bald und stirbt. Wenn du wirklich ein König sein willst, dann stell dich an die Spitze deiner Heere und marschiere voran. Wenn du es nicht tust, dann tut es ein anderer.«
»Wer?«
»Was spielt das für eine Rolle?« murmelte der Alte übellaunig. »Wenn jemand so dumm ist, die Macht aus der Hand zu geben, dann gibt es immer einen, der bereit ist, sich ihrer zu bemächtigen, und Verrat begeht nie der, den du verdächtigst, sondern der, von dem du es am wenigsten erwartest.«
»Ich nehme an, mein Alter wäre nie darauf gekommen, daß ihn ausgerechnet sein >Lieblingssohn< in der eigenen Zisterne einsperren würde«, gab JeanClaude Barriere mit dem Anflug eines Lächelns zu, was bei ihm selten war. Anschließend fragte er wie beiläufig: »Glaubst du, daß er ertrunken oder an der Kälte gestorben ist?«
»Weder das eine noch das andere«, befand der Alte. »Er ist gestorben, weil Allah entschieden hatte, daß seine Stunde gekommen war.«
»Und wenn ich dir jetzt in diesem Augenblick den Kopf abschlagen würde?«
»Dann würdest du nur Seinen Willen erfüllen, denn das hieße, daß er verfügt hat, daß dies der letzte Tag meines Lebens sein soll.«
»In diesem Fall wäre ich für deinen Tod nicht verantwortlich, denn er wäre mir befohlen worden.«
»Allah befiehlt nicht. Er gibt dir die Freiheit zu handeln, aber da er alles weiß, weiß er auch, wie du dich verhalten wirst.«
»Weiß er also auch, ob ich zum Niger marschieren werde?«
Der Alte nickte überzeugt.
»Das weiß er.«
»Und du? Weißt du es auch?«
»Ich auch.«
»Hat es Allah dir vielleicht enthüllt?«
»Mitnichten. Das warst du selbst. Wenn ich nach so langer Zeit nicht wüßte, wie du reagierst, dann hätte ich keinen Grund, länger an deiner Seite zu bleiben.«
»Die Vorstellung gefällt mir nicht, daß einer, nicht einmal du, im voraus weiß, was ich tun werde«, befand MulayAli. »Das macht mich verwundbar.«
»Mich noch mehr«, entgegnete der andere.
Der Mulatte blickte seinen alten Meister neugierig an, dachte besonders lange über die wahre Bedeutung der Antwort nach und ließ schließlich ein kurzes Lachen hören.
»Du hast recht!« räumte er ein. »Sehr recht!«
Eine Woche später verließen seine »Bataillone« die Seestadt Ganvie, um ihren langen Marsch durch Urwälder, Flüsse, Sümpfe, Berge und Ebenen zu beginnen. Den gut ausgerüsteten Truppen des mächtigen Königs von Abomey gingen sie dabei aber lieber aus dem Weg. Auf ausdrücklichen Wunsch des Weisen machten sie auch einen Bogen um die bevölkerungsreichen Städte Ibadän und Benin.