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An der Spitze der Männer von MulayAli marschierte der Schotte Ian MacLean, gefolgt von einem halben Dutzend eingeborener Dudelsackbläser, die man in Edinburgh wegen »musikalischer Majestätsbeleidigung« aufgehängt hätte. So bahnten sie sich mit Blut und Feuer ihren Weg durch die Territorien der Yoruba, dann der Ibo, wobei sie auf ihrem Marsch so viele Sklaven wie nur möglich ergriffen und die örtlichen Häuptlinge zwangen, dem Mann absolute Treue zu schwören, der zum unangefochtenen Monarchen der Region auserkoren worden war.

Fünftausend bestens ausgerüstete Männer und sechzig Kanonen mittleren Kalibers waren in der Tat eine eindrucksvolle Kriegsmacht, die auf ihrem Marsch nur verwüstete Felder, verbrannte Dörfer und zerstörte Familien zurückließ. Die Jungen legte man sofort in Ketten, während die Alten oder die Kinder entweder starben oder ihrem Schicksal überlassen wurden, je nachdem, mit welchem Fuß der Mulatte am Morgen aufgestanden war.

Wenn der ermüdende Marsch, auf dem man Kanonen oder Munitionskisten auf den Schultern schleppte, die Träger völlig erschöpft zusammenbrechen ließ, ließ ihnen MulayAli scharfe Pfefferschoten in den After stecken. Half dieses schnelle und grausame Mittel nichts und sprangen die Männer nicht sofort wieder auf die Beine, dann ließ er ihnen mit der Machete die Köpfe abschlagen.

Historiker versichern, daß in den drei Jahrhunderten, in denen der Sklavenhandel seine größte Blütezeit erlebte, über hundert Millionen Afrikaner direkt oder indirekt unter den schrecklichen Folgen litten. Zwar ist die Zahl in dieser Höhe nur sehr schwer zu bestätigen, Tatsache ist aber, daß die Brutalität, die der Mulatte JeanClaude Barriere auf seiner gesamten unseligen Reise durch die Territorien des Golfs von Guinea demonstrierte, den dortigen Einwohnern als trauriger Meilenstein der Grausamkeiten im Gedächtnis blieb.

Eine Welt, die seit Urzeiten vom Schrecken beherrscht wurde, mußte plötzlich erfahren, was es hieß, ohnehin verschreckte Menschen mit geradezu grotesk übertriebener Brutalität zu terrorisieren. Das ging so weit, daß einige Menschen schließlich sogar das Schicksal, auf ein stinkendes Schiff verschleppt und ans andere Ende des Ozeans zum Sterben geschickt zu werden, geradezu als Erlösung ansahen.

In der Ikonographie der Kulturen der Ibo, Fulbe, Bamileke und Yoruba findet man noch Skulpturen und Bilder, die den König vom Niger zeigen, wie er auf einem Sessel thront, der von zwanzig Sklaven auf den Schultern getragen wird. In der einen Hand hält er eine Lanze, in der anderen eine Fackeclass="underline" die unmißverständlichen Symbole für Zerstörung und Tod, was er beides stets hinter sich zurückließ.

Er war wie ein göttlicher Fluch, ein wahrer Erzengel des Schmerzes. Nachdem er vier Monate später die Stelle erreicht hatte, die der Schotte ausgewählt hatte, zwang er die Sklaven, Tag und Nacht für den Bau der stolzen Festung zu schuften, um schließlich auf den Zinnen seine Kanonen aufzustellen und sich selbst zum unangefochtenen Souverän eines Reichs zu krönen, das in keiner Himmelsrichtung Grenzen zuließ.

Aber jetzt, zwölf Jahre später, als er sich auf dem Höhepunkt seines Ruhms und seiner Macht befand, war ein idiotisches Schiff dabei, seinem Reich ein Ende zu setzen, nur weil es seine wichtigsten Nachschubwege blockierte.

Und der Mulatte wußte besser als jeder andere, daß ohne die gefürchtete, moderne und mächtige europäische Bewaffnung seine Macht wie Wachs in der Sonne dahinschmelzen würde.

»Aber warum tun sie das?« fragte er ein weiteres Mal und wandte sich an den Schotten MacLean, den der Mangel an Munition ebenfalls außerordentlich beunruhigte. »Was wollen die denn?«

»Den Handel mit Sklaven beenden«, lautete die Antwort.

»Aber warum? Es sind doch nicht einmal Schwarze.«

»Offensichtlich gibt es Weiße, denen es nicht paßt, daß andere Menschen Sklaven sind«, kommentierte sein Gegenüber und strich sich den karierten Rock glatt, was er stets zu tun pflegte, wenn er ungeduldig wurde. »Nicht einmal Schwarze.«

»Das gibt’s doch nicht«, behauptete der Mulatte überzeugt. »Nur ein Sklave kann vernünftigerweise gegen die Sklaverei sein. Es muß ein anderes Motiv geben.«

Aber sosehr er auch suchte und fragte, er fand keine überzeugende Antwort auf die Tatsache, daß es gewissen Menschen nicht im geringsten gefiel, die Herren über Leben und Freiheit anderer Menschen zu sein.

Schon gar nicht, wenn es Schwarze waren.

Das stimmte nicht mit dem überein, was er als Kind gesehen und gelernt hatte, und die Tatsache, daß er es nicht verstehen konnte, versetzte ihn in Rage.

Yadiyadiara hatte ihren Vater, ihren Ehemann, drei Brüder, drei Söhne und zahllose Verwandte an die Sklavenhändler verloren.

Wenn ein geliebtes Wesen stirbt, hinterläßt es eine große Leere und einen tiefen Schmerz, der nur langsam vergeht. Wenn man aber weiß, daß dieses geliebte Wesen sehr weit fort ist und vielleicht Schlimmeres erdulden muß als den Tod, weil man es alle Qualen der Hölle erleiden läßt, dann wird aus Leere und Schmerz eine dumpfe Wut, ein verzweifeltes Gefühl der Ohnmacht. Am liebsten würde man dem Menschen, der an diesem Unrecht die Schuld trägt, die Augen ausreißen und die Haut in Streifen abziehen.

Als die Sklavenjäger das erste Mal ihr Dorf verwüsteten, um ihren Vater und ihren ältesten Bruder zu verschleppen, da zählte Yadiyadiara sieben Jahre. Beim zweiten Mal war sie kaum zwölf Jahre alt, doch da vergewaltigte man sie schon und ließ sie schwanger zurück. Von nun an verging kaum ein Sommer, in dem nicht die Männer von MulayAli ihrer elenden Siedlung einen routinemäßigen Besuch abstatteten. Ein Dorf war das nicht mehr, denn dort lebten nur noch einige ausgehungerte Greise, erschöpfte Frauen und abgemagerte Kinder, die bei früheren »Routinebesuchen« gezeugt worden waren.

Der jahrhundertelange Sklavenhandel auf dem Schwarzen Kontinent hinterließ nicht nur bittere Erinnerungen im Gedächtnis derer, die ihn erdulden mußten. Schlimmer war noch, daß aus dem grausamen Unrecht langsam Gewohnheit wurde, eine Lebensweise, die Millionen von Menschen zu akzeptieren hatten, so normal und selbstverständlich wie Krankheit und Tod.

Nur Kinder, Alte, Krüppel oder Sieche blieben vom Ebenholzhandel verschont, allerdings nicht von den unendlichen Leiden, die dieses »Geschäft« verursachte. Denn ohne Männer, die jagten, fischten oder das Land bestellten, war der Rest der Gemeinschaft unweigerlich zum Hunger verdammt.

Eine soziale Organisation, deren wichtigste Arbeitskraft immer schneller dahinschmolz, mußte zwangsläufig ins Elend führen. Die Felder, die man in Jahren urbar gemacht hatte, trugen keine Früchte mehr, die Bewässerungskanäle, die man über Generationen hinweg angelegt hatte, verfielen, und die Herden, die von Vater zu Sohn gewachsen waren, weideten nicht mehr. Damit ging die Arbeit von Jahrhunderten verloren.

Die zurückgebliebenen Alten hatten nicht mehr die Kraft, die Felder zu pflügen, gleichzeitig aber auch keine Knaben mehr, denen sie es beibringen konnten. Zur gleichen Zeit ging den Knaben, die man fern ihrer Heimat verschleppt hatte, der weise Rat der Alten verloren: Das tiefe Wissen, das ihr Volk im Lauf der Zeit angesammelt hatte, wurde nicht mehr übermittelt.

Eine Kette zerbrach.

Paradoxerweise sprengten die Ketten der Sklaverei das, was eine Generation mit der nächsten verband. Jahrhunderte unaufhörlicher Razzien schwächten in weiten Teilen Afrikas die traditionellen Kulturen so sehr, daß sie schließlich fast ganz verschwanden.

Fertigkeiten, Erfahrungen und Geheimnisse, die man in allen Bereichen des menschlichen Wissens hätte weitergeben können, gerieten in Vergessenheit. Ebenso ging die Geschichte der einzelnen Gemeinschaften verloren, ja sogar das Wissen um den tieferen Sinn des Lebens oder die mythische Herkunft der Götter.