Was die »zivilisierten« weißen Nationen den afrikanischen antaten, war nicht so sehr ein »Völkermord«, wie man ihn heute versteht, eher eine systematische Zerstörung der kulturellen Identität, bis nichts mehr einen Sinn machte.
Natürlich dachte eine einfache Frau wie Yadiyadiara nicht in diesen Begriffen, sosehr sie auch alles am eigenen Leib erlitten hatte. Sie war sich jedoch völlig bewußt, daß ein ständiger wie die Seuchen wiederkehrender göttlicher Fluch ihre kleine Welt buchstäblich zermahlte.
Yadiyadiara war es müde anzusehen, wie ihre Brüder und Söhne vor Schmerz aufheulten, wenn ihnen ein rotglühendes Eisen das Fleisch verbrannte.
Der Geruch dieses geliebten Fleisches, das man da verschmorte, würde sie bis ins Grab verfolgen und verstärkte ihre Ohnmacht. Gleichzeitig verlieh er ihrem Leben einen Sinn und hielt ihren Haß lebendig wie jetzt, da sie geräuschlos durch das Dickicht von Dornbüschen, Mangroven und Lianen glitt und nach den verabscheuten Feinden ihrer Rasse suchte.
Ihre Hand klammerte sich um die spitze Lanze, mit der ihr Vater einst Leoparden entgegengetreten war. Yadiyadiara »wußte«, sie würde keinen Augenblick lang zögern, diesen Speer in das Herz des ersten Sklavenjägers zu bohren, der ihren Weg kreuzte.
»Niemand darf erfahren, daß wir im Delta sind«, hatte ihr Celeste Heredia eingeschärft. »Und schon gar keiner darf MulayAli warnen.«
»Keiner wird das tun!« lautete ihre entschlossene Antwort.
Um ihr Versprechen einzulösen, bildeten vierzig Frauen, die in kleine Grüppchen aufgeteilt waren, die Vorhut der Schiffe. Nicht das kleinste Detail, das in den Sümpfen geschah, entging ihnen.
Hinter sich ließen sie alleinstehende Hütten mit bettelarmen Familien. Diese hatten sich im tiefsten Winkel der ungesunden Sümpfe versteckt: ein verzweifelter Versuch, sich vor den Sklavenjägern in Sicherheit zu bringen. Yadiyadiara war felsenfest entschlossen — und dafür sorgte sie auch —, daß keine Menschenseele ihrer Vorhut enteilte. Gleichzeitig ließ sie alle großen Trommeln zerstören, die über weite Entfernungen hin die Nachricht von der Anwesenheit der Schiffe hätten verbreiten können.
Fünf Tage lang zogen sie nun schon durch das Delta, und alles lief wie geplant. Dann stießen sie an einem Vormittag plötzlich auf eine weite Lagune, die aufgrund ihres dichten Seerosenteppichs an eine riesige Wiese erinnerte. Hohe schlanke Palmenstümpfe ragten heraus, die an die dreißig armselige, wackelige Seehütten stützten.
»Was nun?« sorgte sich ihre jüngste Tochter. Ihr war es nicht entgangen, daß sie auf eine recht bedeutende menschliche Siedlung gestoßen waren. »Wollen wir zu den Weißen zurückkehren, damit sie uns helfen?«
»Erst finden wir mal heraus, was das für Menschen sind«, urteilte ihre Mutter. »Geh um die Lagune herum und pirsch dich so nahe heran wie möglich. Wenn sie dich fangen, dann sage lediglich, daß du auf der Flucht vor den Leuten von MulayAli bist.«
Geräuschlos verschwand das Mädchen im Dickicht. Nach einer guten Stunde kam sie außer Atem zurück, sank zu Boden und seufzte:
»Es sind Leprakranke.«
»Leprakranke…?« wiederholte ihre Mutter. »Das ist doch nicht möglich!«
»O doch!« beharrte die andere. »Die meisten sehen schrecklich aus, und einige sind blind. Was sollen wir tun?«
»Celeste wird es schon wissen.«
»Leprakranke…?« wiederholte Celeste Heredia entsetzt, als ihr die gute Frau erzählte, was sie entdeckt hatten. »Gott steh uns bei! Was sollen wir jetzt machen?«
»Ich nahm an, das weißt du«, kommentierte die YorubaFrau lapidar. »Du weißt doch alles.«
»Ich habe nie behauptet, alles zu wissen«, protestierte sie niedergeschlagen. »Schon gar nicht über Aussätzige! Heiliger Herr im Himmel!« jammerte sie. »Wenn das die Männer erfahren, dann drehen sie um und kehren zum Meer zurück. Mist, verdammter!«
Sie ging in der großen Messe auf und ab. Vergeblich rang sie sich vor ihrer überraschten Besucherin ein gelassenes Gesicht ab. Nach einem ärgerlichen Grunzen reckte sie die Faust gen Himmel, steckte den Kopf aus der Tür und rief so laut, daß es einem fast die Ohren betäubte:
»Alle Offiziere zu mir…! Sofort!«
Der Offiziersstab an Bord nahm etwas perplex dieses schroffe Benehmen zur Kenntnis. Das war man nicht gewohnt von einer Frau, die ihre Gefühle stets im Zaum hielt. Aber alle reagierten ähnlich, als sie von dem Lepradorf hörten.
»Potzblitz…!«
»Verdammt…!«
»Teufel noch mal…!«
»Erst die Pest und jetzt die Lepra.«
»Und an denen müssen wir unbedingt vorbei?«
Stumm blickte Celeste Yadiyadiara an, die überzeugt nickte.
»Der Fluß bildet einen großen See, aber das Dorf liegt am nördlichen Zufluß. Das macht auch Sinn, denn dort sammeln sich in den Akadjas die Fische, die stromabwärts schwimmen.«
»Was ist eine Akadja?« wollte Miguel Heredia wissen.
»Eine Falle aus großen Ästen, die man spiralförmig in den Seegrund steckt. Die Fische geraten hinein und schwimmen im Kreis, ohne einen Ausgang zu finden. Sind die Fallen voll, dann schließt man sie und zieht sie hoch. Auf diese Weise überleben auch kraftlose Kranke.« Sie stieß einen sorgenvollen Seufzer aus: »Das Problem liegt darin, daß wir einige der Hütten zerstören werden, wenn wir mit unseren riesigen Schiffen daran vorbeifahren.«
»So nahe liegen sie am Wasser?«
»Sie liegen nicht am Wasser, sondern im Wasser. So vermeidet man die Angriffe wilder Tiere.« Die Eingeborene sah sie der Reihe nach an und fügte hinzu: »Die Leprakranken wissen sehr wohl, daß sie von den Menschen nichts zu fürchten haben, aber Krokodile und Löwen fressen sie ebenso leicht wie alle übrigen Sterblichen.«
»Und werden die nicht krank?«
Etwas perplex schaute die gute Frau Hauptmann Sancho Mendana an, der diese absurde Frage gestellt hatte. Einige Augenblicke lang schienen ihr die Worte zu fehlen.
»Bis heute habe ich noch keinen aussätzigen Löwen gesehen«, bekannte sie schließlich. »Allerdings sind mir in meinem ganzen Leben überhaupt nur vier unter die Augen gekommen. Warum fragt Ihr?«
»Weil ich gehört habe, daß man nicht genau weiß, wie die Lepra übertragen wird, und da habe ich mir gedacht, wenn man aussätziges Fleisch ißt…«
»Sancho, bitte!«
»Was ist los?«
»Die Situation ist schon heikel genug. Da brauchen wir uns nicht noch an morbiden Details zu weiden«, befand Celeste Heredia. »Was zählt, ist, wie wir es der Besatzung beibringen, ohne daß die das Weite sucht.«
»Am besten sagen wir gar nichts«, urteilte Arrigo Buenarrivo.
»Sie werden es auf jeden Fall erfahren.«
»Wie denn?« fragte der Venezianer. »Daß einer Lepra hat, sieht man nur aus nächster Nähe, und ich bin sicher, wenn wir in diese Lagune hineinfahren und einige Kanonen abfeuern, dann laufen die wie die Hasen und verstecken sich im tiefsten Urwald. In diesem Augenblick fahren wir vorbei, und damit hat es sich.«
»Und zerstören dabei ihre Hütten?« wollte der Engländer Reuter wissen. »Das finde ich nicht in Ordnung. Überhaupt nicht in Ordnung.«
»Ich auch nicht, aber ich garantiere dir, wenn wir ihnen als Entschädigung Stoffe, Töpfe, Macheten und Spiegel dalassen…« Der kleine Kapitän zögerte einen Augenblick und lächelte ein wenig: »Na schön, Spiegel nicht gerade, aber dafür Bier, Essen, Teller und alles, was wir sonst noch so an Bord haben und was sie anderweitig nie bekommen würden. Ich glaube, die werden nicht groß jammern, daß wir ihnen dafür einige Hütten zerstören.«
»Keine schlechte Idee«, gab der Engländer zu. »Mir an ihrer Stelle würde der Tausch gefallen.«
Sie sahen sich schweigend an, und schließlich wandte sich das Mädchen an Yadiyadiara.
»Was hältst du davon?« wollte sie wissen.
Die gute Frau stimmte mit einem breiten Lächeln zu.
»Jeder Afrikaner, ob aussätzig oder nicht, kann eine Hütte bauen. Aber für jeden Afrikaner, aussätzig oder nicht, sind die meisten dieser Objekte wahre Schätze.« Sie wies auf den schweren Vorhang an der hinteren Wand, der mit Goldbrokat bestickt war. »Für den allein würden die Frauen meines Dorfes drei Hütten errichten, und du könntest ihnen dabei eine Hand auf den Rücken binden.«