Am nächsten Morgen befahl Celeste, die Fahrt auf dem ruhigen Fluß wiederaufzunehmen. An dessen Ufern verschwanden langsam die letzten Reste der Urwaldvegetation und wichen schattigen Akazien, grotesk aussehenden Affenbrotbäumen und gedrungenen Palmen. Dazwischen sah man immer öfter einzelne Hütten oder kleine Dörfer, die jedoch gespenstisch verlassen wirkten.
Dagegen wurde die Tierwelt immer vielfältiger. Elefanten, Büffel, Gnus, Antilopen und Paviane schienen sich dazu entschlossen zu haben, massenweise ans Ufer zu kommen und dabei zuzusehen, wie die Schiffe vorbeifuhren. Als sie schließlich am späten Vormittag ein kleines Wäldchen erblickten, durch das eine stolze, gleichgültige Giraffenfamilie streifte, schienen die Männer der Dama de Plata endlich zu akzeptieren, daß sie sich im Herzen eines neuen und unerforschten Kontinents befanden.
Zu guter Letzt machten drei faule Löwen ihre majestätische Aufwartung.
Löwen!
Richtige Löwen mit langer Mähne und gelblichen Zähnen, die auf einer Uferbank im Schatten vor sich hin dösten und sich kaum dazu herabließen, ein Auge zu öffnen, trotz der sichtbaren Aufregung, die ihre Anwesenheit bei jener seltsamen menschlichen Spezies vom anderen Ende der Welt hervorrief.
Löwen!
Sie änderten ein wenig den Kurs, um sie aus der Nähe zu betrachten, aber keinem Besatzungsmitglied kam es in den Sinn, auf sie zu feuern, denn in jenen Zeiten hatten es die Menschen noch nicht nötig, ein schönes Tier nur deshalb zu töten, um dessen Fell als makabren Beweis einer angeblichen Heldentat zu präsentieren.
Alle, die auf den beiden Schiffen fuhren, hatten ihren Mut bereits mehr als genug bewiesen, und daher waren jene Löwen, ebenso wie die Giraffenfamilie oder die lärmende Elefantenhorde nur der lebende Beweis dafür, daß sie in der Lage gewesen waren, die gefährlichen Sümpfe des Nigerdeltas zu durchqueren. Nun hatten sie mit heiler Haut die weiten Regionen erreicht, in denen es vor wunderbaren Bestien wie diesen nur so wimmelte, die sie mißmutig anknurrten und mit dem Schwanz die Fliegen verscheuchten.
Einige Stunden später, während sie durch eine Flußschleife fuhren, sahen sie einen sehr langen, klapperdürren pechschwarzen Mann, der sich auf ein Bein und einen langen Speer stützte. Er zeichnete sich gegen die rote Scheibe einer Sonne ab, die bereits den Horizont berührte, und betrachtete die Schiffe so gelassen, als handelte es sich nur um eine weitere Giraffe.
»Warum hat er keine Angst?« wollte Celeste wissen.
»Keine Ahnung«, erwiderte Pater Barbas, während er einem seiner Ruderer einen Wink gab, den Grund herauszufinden, warum dieser beunruhigende Mensch nicht geflohen war wie seine Nachbarn.
Der Krieger sprang kopfüber ins Wasser, schwamm zum nahen Ufer, ging auf den Schwarzen mit dem Speer zu, der regungslos stehenblieb. Kurz darauf machte er kehrt und kletterte atemlos an Bord.
»Wer ist das?« wollte der Navarrese wissen.
»Ein Hirte.«
»Und warum hat er keine Angst?«
»Er ist taub.«
In dieser Nacht träumte Celeste Heredia immer wieder von dem einsamen Hirten, dessen Silhouette sich gegen die Sonnenscheibe abzeichnete. Dieses Bild sollte sie ihr ganzes Leben lang nicht vergessen. Oft kehrte es völlig unverhofft in ihr Gedächtnis zurück, ohne daß sie gewußt hätte, warum. So klar wie damals, als sie ihn leibhaftig erblickt hatte, stand ihr dann dieses Bild vor Augen. Dieser taube alte Mann, der so einsam und weltfern war, daß er nicht wußte, warum seine Mitmenschen ihr Zuhause verlassen hatten, ja es vielleicht nicht einmal mitbekommen hatte, daß er plötzlich in weitem Umkreis der einzige Mensch war. Für Celeste sollte er bis zu ihrem Tod das Symbol des wahren Sinns ihrer gefährlichen Reise bleiben.
Oft wählt das menschliche Hirn unter allen Erinnerungen eine einzige absurde aus und versieht sie mit einem unauslöschlichen Brandzeichen, so daß sie unwillkürlich immer wiederkehrt. An Millionen wichtigere Szenen konnte man sich erinnern, aber nur wenige kehrten einfach so, ohne bewußtes Erinnern, ins Gedächtnis zurück.
Weder die bitteren Leiden ihrer Kindheit noch das ersehnte Wiedersehen mit ihrem Bruder oder der brutale Schlag, den es bedeutete, mit anzusehen, wie die Erde unter ihren Füßen bebte und eine ganze Stadt binnen Sekunden verschwand, vermochten in späteren Jahren eine solche Kraft unter ihren Erinnerungen zu gewinnen wie jener ferne und unbekannte afrikanische Hirte.
Den Grund für dieses seltsame Phänomen sollte sie nie herausfinden, ebensowenig wie die meisten Menschen wissen, warum eine Melodie, ein Duft, ein Wort oder ein Bild plötzlich Teil ihrer Person wird wie Augen, Nase oder Mund.
In dieser seltsamen Nacht träumte sie immer wieder von dem Schwarzen mit dem Speer, bis die rauhe Stimme des Spottsängers klar und deutlich an ihr Ohr drang:
»Männer an die Ruder!«
»Männer an die Ruder!«
»Rudert, Süßwassermatrosen!«
»Rudert, Süßwassermatrosen!«
Die Taue spannten sich.
»Löwen backbord!«
»Löwen backbord!«
»Elefanten steuerbord!«
»Elefanten steuerbord!«
Man holte die Anker ein.
»Und dort vorn im Morgenrot…!«
»Und dort vorn im Morgenrot…!«
»Warten Blut und schlimmer Tod…!«
»Warten Blut und schlimmer Tod…!«
Meter um Meter glitten Fregatte und Galeone voran, immer weiter auf die Festung MulayAlis zu.
»Oder Lachen und Ruhm…!«
»Oder Lachen und Ruhm…!«
»Unseres großen Siegs…!«
»Unseres großen Siegs…!«
Miguel Heredia betrachtete, an das riesige, jetzt fixierte Steuerruder gelehnt, das verschlafene Gesicht seiner Tochter, die aus der Kajüte kam und laut gähnte, während sie in den grauen Morgenhimmel sah, an dem noch kein Sonnenstrahl zu sehen war.
»Die Männer sind offenbar zufrieden«, flüsterte er lächelnd, als er sah, wie sich Celeste mit der Faust die Augen rieb, wie sie es schon als kleines Mädchen zu tun pflegte. »Sehr zufrieden.«
»Das verstehe ich nicht, wo sie so früh aufstehen mußten«, erwiderte das Mädchen und gähnte erneut. »Wer in aller Herrgottsfrühe rudern muß, springt normalerweise nicht gerade vor Freude in die Luft.«
»In der Morgenkühle rudert es sich besser als unter der brennenden Sonne«, lautete die Antwort. »Hauptsache, sie vertrauen ihrem Kommandeur.«
»Gilt das auch für dich?« wollte seine Tochter wissen.
»Mal abgesehen von dem Wahnsinn, einer ganzen Armee mit lediglich zwei Schiffen und zwei halben Besatzungen gegenüberzutreten, kann ich mich nicht beklagen«, gab der Alte zu. »Diese Frauen zeigen viel Mut, und der Priester ist sehr schlau. Auch wenn sich dir der Magen umdreht, die Idee mit der Epidemie schafft uns freie Bahn.« Er wies auf das ferne Ufer, das sich mit der aufgehenden Sonne immer klarer abzeichnete. »Keine Menschenseele ist zu sehen, und je später man MulayAli von unserer Ankunft in Kenntnis setzt, um so weniger Zeit bleibt ihm zur Vorbereitung.« Er schnalzte zufrieden mit der Zunge. »Bei Gott! Ich würde gern sein Gesicht sehen, wenn er entdeckt, daß wir ihm in den Rücken fallen.«
»Vergiß nicht, daß er offenbar auf fast dreitausend Männer zählen kann«, bemerkte seine Tochter. »Und allmählich zweifle ich daran, ob wir genug Munition haben, um sie alle zu töten.«
»In keiner Schlacht bringt man >alle< Feinde um«, erwiderte Miguel Heredia und lächelte erneut. »Wir müssen nur so viele töten, daß der Rest eine gute Ausrede hat, die Flucht zu ergreifen. Soweit ich weiß, bestehen die >Heere< dieses Schweins aus Söldnern und Sklaven, die nur die Wahl hatten, sich rekrutieren zu lassen oder verkauft zu werden.« Er drehte sich um, nahm die Hände seiner Tochter und drückte sie fest, bevor er mit tiefer Zuneigung hinzufügte: »Du weißt sehr gut, daß ich anfänglich Zweifel daran hatte, ob dieses Abenteuer gelingen würde und ob es Sinn machte, in See zu stechen, um gegen den Sklavenhandel zu kämpfen.« Er machte eine komische krause Nase. »Im Grunde habe ich immer noch gewisse Vorbehalte, aber bei dieser konkreten Aktion, das muß ich zugeben, sind wir auf dem richtigen Weg: Der König vom Niger hat tönerne Füße, so tönern wie die Mauern seiner Festung.«