Выбрать главу

»Was kann man tun, wenn die Götter einen verfluchen und vernichten wollen?« fragte er eines Nachts den weisen Marabut, der natürlich auf alles eine Antwort hatte. »Wie soll man gegen solche Feinde kämpfen?« Diesmal schüttelte der Alte aber lediglich wiederholt den Kopf, während er sich zerstreut den zerzausten grauen Bart zupfte.

»Einen solchen Fluch gibt es nicht, und auch keine solchen Götter«, behauptete er überzeugt. »Und ein wahrer Moslem sollte solchen Märchen kein Gehör schenken. Du weißt sehr gut, daß es keinen Gott außer Allah gibt, und daher sind Elegba und ihre angebliche Spucke nur ein Aberglauben barbarischer Völker. Nicht sie schickt die Tollwut.«

»Wer schickt sie mir dann?«

»Du überschätzt dich, wenn du annimmst, daß man sie dir persönlich schickt. Die Tollwut ist eine Krankheit wie die Lepra, die Pocken oder die Pest, und deine Pflicht als König ist es, ihre Auswirkungen so gering wie möglich zu halten, indem du verhinderst, daß Panik um sich greift.« Der Marabut deutete mit dem Finger direkt auf die Brust seines Schülers, als er fortfuhr: »Hier und jetzt mußt du beweisen, daß du wirklich zu herrschen verstehst. Was du bis jetzt getan hast, Krieger loszuschicken, die Dörfer vernichten und Sklaven einfangen, das kann ein jeder.«

Trotz all der weisen Worte wurde es immer klarer, daß weder MulayAli noch der Marabut aus Ibadan und noch weniger der Schotte Ian MacLean auch nur den geringsten Schimmer hatten, was sie gegen eine Epidemie unternehmen sollten, die unaufhaltsam auf seine Zitadelle zumarschierte. Ebensowenig wußten sie, wie man verhindern konnte, daß die schreckensbleichen Bewohner sich darum Sorgen machten, was passieren würde, wenn die Tollwut in die belebten Gassen, die überfüllten Plätze und die riesigen Lagerhäuser eindringen würde, in denen man Hunderte von Sklaven in Ketten eingepfercht hatte.

Wer würde verhindern, daß der Nachbar seinen Nachbarn biß, der Passant den Wasserträger oder der Gefangene seinen Zellengenossen?

Wer fühlte sich in der Lage, herauszufinden, welcher Hund, welche Katze, welches Schwein oder welcher Affe drauf und dran war, seinen Herrn anzufallen?

Wer konnte wissen, wie viele der zahlreichen Männer, Frauen oder Kinder, die hier nach wilder Flucht ankamen, nicht bereits die schreckliche Krankheit in sich trugen?

Als Vorsichtsmaßnahme ließ der Mulatte alle Haustiere opfern, die sich innerhalb des Mauerbezirks befanden. Außerdem befahl er, die verzweifelten Leute aus dem Süden, die mit den schrecklichen Geschichten über tollwütige Bestien ankamen, auf keinen Fall die Tore der Festung passieren zu lassen. Gleichzeitig forderte eine ausgesuchte Gruppe von Kriegern die Flüchtlinge auf, am Ufer eines Flusses zu kampieren, in den man sie dann mit Gewalt trieb.

Nach MulayAli war jeder, der sich weigerte, eine lange Weile unter Wasser zu bleiben, ein Mensch, der die Tollwut haben konnte. Da ersparte man den anderen Probleme und sich selbst Leiden, wenn man dem wasserscheuen Kerl die Kehle durchschnitt und die Leiche so weit wie möglich von der Strömung forttragen ließ.

Seltsamerweise führte der allgemeine Terror zu einer solchen Massenhysterie, daß manch einer sich hartnäkkig sträubte, in die Nähe des Flusses zu kommen, vielleicht, weil er sich vor der Entdeckung fürchtete, Angst vor dem Wasser und damit die Tollwut zu haben.

Immer wenn ein Erleuchteter das Ende der Welt ankündigt, nehmen sich manche Leute das Leben, weil sie die Angst vor der Apokalypse nicht mehr ertragen können. In jenen Tagen wählte eine Handvoll armer Kerle, die Panik und Aberglauben völlig verwirrt hatten, den leichten Weg einer schnellen Hinrichtung, anstatt sich von der giftigen Spucke einer rachsüchtigen Göttin infiziert zu sehen.

Für die meisten Anhänger der afrikanischen Naturreligionen bestimmte die Art des Todes das Leben im Jenseits. Aus diesem Grund bemühten sie sich, ihren letzten Atemzug so friedlich wie nur möglich zu tun, und umgaben sich mit den Geschöpfen und Dingen, die sie am meisten liebten. Das war gewissermaßen das Vorspiel zu einer glücklichen Ewigkeit in Gesellschaft dieser Geschöpfe und Dinge.

Die Kehle durchgeschnitten zu bekommen, während man die Augen auf das schöne Land richtete, in dem man geboren und aufgewachsen war, das war ihrer Sichtweise nach ein wesentlich verheißungsvolleres Ende, als diese Welt zu verlassen, während man Schaum spuckte, sich vor Schmerzen krümmte, jedes Lebewesen biß und dabei die Götter auf ewig verfluchte.

Jede einzelne dieser »Hinrichtungen«, so rar sie auch waren, steigerte die Unruhe derer, die am Ufer des Flusses oder im Inneren der Zitadelle ihr Leben fristeten. Bald war jedes Viertel, jedes Haus, jede Familie, ja jedes einzelne Individuum nur noch damit beschäftigt, das eigene Revier zu verteidigen und um jeden Preis zu verhindern, daß sich ihm irgend jemand näherte, ob Mensch oder Tier.

»Ich möchte den Weisen des Feuers sehen«, verlangte MulayAli.

»Den Weisen des Feuers?« fragte Alain Barriere. Er gehörte zu den lästigen Zeitgenossen, die die absurde. Angewohnheit hatten, alles zu wiederholen, als wären sie niemals sicher, auch nur das Elementarste verstanden zu haben. »Warum?«

»Ich brauche Rat.«

»Rat? Rat von einem schmutzigen Bamileke, wo dir die besten Ratgeber zur Verfügung stehen, die je ein König gehabt hat?«

Der Mulatte hob die Hand und bat sich unmißverständlich Ruhe aus.

»Weder der Marabut noch MacLean oder ein einziger meiner Diener hat mir irgend etwas Nützliches gesagt.« Er zeigte mit dem Finger auf ihn. »Bereite ein Treffen mit Sakhau Ndu vor, bevor es zu spät ist.«

»Zu spät?« wiederholte ein weiteres Mal sein Stiefbruder. »Zu spät wofür? Ist dir klar, was die Fulbe sagen werden, wenn sie entdecken, daß du in einem Augenblick wie diesem auf einen schmutzigen Zauberer zurückgreifst?«

»Auf wen sonst?« fauchte ihn MulayAli an. »Weder Jesus Christus noch Buddha oder Mohammed haben auf die Erde gespuckt. Elegba war es, und aus diesem Grund kann nur ein Schamane wissen, wie man ihren Zorn besänftigt.« Er verabschiedete sich mit einer herrischen Geste. »Tu, was ich dir gesagt habe, und fackel nicht lange.«

Sakhau Ndu, der im Umkreis von Hunderten, wenn nicht Tausenden von Meilen geachtetste Weise des Feuers, lebte in einem beängstigenden Palast aus Lehmziegeln, in deren Mörtel Schweineblut gemischt war, damit kein fanatischer Mohammedaner die Schwelle seiner Tür überqueren konnte, ohne sich dabei unwohl zu fühlen. Seine ganze Welt war, bis hin zum kleinsten Detail, in Rot getaucht: die symbolische Farbe des Feuers und der Reinigung. Alles, die rätselhaften Bilder an der großen Außenmauer, die Federn seines Kopfschmucks oder sein riesiger Zeremonienumhang, zeigte diese aggressive Farbe, die — ihm zufolge — seine unzerstörbare Verbindung mit allen guten und bösen Geistern symbolisierte.

Wegen seiner Macht und seiner Weisheit war er so gefürchtet, daß nicht einmal der König vom Niger höchstpersönlich es gewagt hätte, auch nur einen Finger gegen ihn zu erheben, obwohl ihn der Marabut ständig dazu drängte. Er sah in ihm nämlich einen gefährlichen, zu einflußreichen Ungläubigen. Als der Weise des Feuers erfuhr, daß MulayAli seine Dienste in Anspruch nehmen wollte, stellte er einige sehr harte Bedingungen, unter denen er eine Begegnung akzeptieren würde.

»Er muß am Abend kommen, allein, nackt, und ein weißes Ferkel als Geschenk mitbringen. Vielleicht vergessen die Götter seiner Ahnen dann seinen Verrat und lassen sich dazu herab, ihn anzuhören.«

Für einen stolzen Monarchen, Diener Allahs und Geißel der Ungläubigen, waren die Bedingungen kaum annehmbar, aber da ferne und verwirrende Trommeln die Nacht zuvor angekündigt hatten, daß außer der Pest aus dem Süden eine neue Gefahr in Form von zwei riesigen kanonengespickten Schiffen heraufzog, beschloß JeanClaude Barriere, daß jetzt nicht der Augenblick war, sich mit protokollarischen Fragen aufzuhalten. So entschied er sich, den weiten Fluß allein zu überqueren, sein Kanu in einer halben Meile Entfernung ans Ufer zu ziehen und zu Fuß, nackt und mit einem weißen Ferkel auf den Schultern, zum mysteriösen Palast mit den roten Wänden zu gehen.