Sakhau Ndu empfing ihn in einem großen kreisförmigen Raum, der nur von der Glut eines riesigen Scheiterhaufens erleuchtet wurde. Dessen Rauch zog durch einen engen Kamin ab, der die Mitte der Kuppel einnahm. Außer einem winzigen Dachfenster gab es keine weitere Belüftung. Durch dieses drang ein Strahl Abendsonne ein, das die obere Partie des Gemachs wie eine leuchtende kupferfarbene Linie durchquerte.
Als ein schweigender Diener die schwere Pforte hinter ihm schloß, blieb der Mulatte reglos stehen und versuchte sich an das Dämmerlicht zu gewöhnen, bis er den Mann erkennen konnte, der auf einem eleganten purpurroten Thron saß. Er kam ihm sehr groß vor, fast wie ein Riese, schlank, sehnig und seiner Ansicht zu jung für einen Menschen, der einen solchen großen Ruhm als Weiser genoß.
»Nimm drei Holzscheite…«, war das erste, was der Schamane mit tiefer bedächtiger Stimme sagte. »Leg sie auf das Feuer, so wie du willst. Aber wähle gut aus, denn mit ihrem Rauch schickst du deine Bitten an die Götter, und von ihm hängt ab, ob sie dich anhören oder nicht.«
MulayAli gehorchte, wählte sorgsam drei kleine Scheite unter den vielen aus, die an der Wand aufgeschichtet waren, und legte sie als Dreieck auf die Glut des großen Scheiterhaufens.
Er sah zu, wie sie zu brennen begannen, nahm auf einer Bank gegenüber dem Hausherrn Platz und wartete geduldig ab. Der Weise des Feuers beobachtete, welche Form die Scheite annahmen und welche Figuren die Rauchschwaden bildeten, während sie mit dem Sonnenstrahl spielten, der über seinem Kopf den Raum kreuzte.
Fast eine halbe Stunde verging.
Die Scheite zerfielen in glühende Asche, und erst jetzt ließ sich Sakhau Ndu herab, seine tiefen und beunruhigenden Augen mit äußerst geweiteten Pupillen auf den erwartungsvollen und beeindruckten König vom Niger zu richten.
»Ich sehe, du hast Elegba gefragt, warum sie dir ihre giftige Spucke schickt«, murmelte er schließlich. »Und die übrigen Götter, warum sie sich gegen dich wenden.« Er machte eine kurze Pause, bevor er anklagend hinzufügte: »Was hast du anderes erwartet, wo du dem Glauben deiner Mutter abgeschworen hast, um aus reiner Berechnung Mohammedaner zu werden? Was hast du erwartet, wo du heute der Schrecken deines Volks bist, und das so sehr, daß die Kinder als erstes lernen, den Namen dessen zu verfluchen, der ihnen die Brüder raubt und die Schwestern schändet?«
»Ich weiß sehr gut, was ich getan habe«, versetzte MulayAli mißmutig. »Aber das ist Vergangenheit. Ich will von der Zukunft hören. Was wird aus der Tollwut, die mein Reich bedroht?«
»Dein Reich wird nicht von der Tollwut im Mund der Menschen bedroht, sondern vom Zorn in ihren Herzen.«
»Soll das heißen, daß die Epidemie ein Ende finden wird?«
»Keineswegs.«
»Was heißt es dann?«
»Nur das, was beginnt, hört auf.«
Einige Augenblicke lang verharrte MulayAli in Schweigen und versuchte, den Sinn dieser Worte zu ergründen, dann fragte er erneut:
»Und was wird aus meinem Reich?«
»Es wird enden wie alles, das beginnt.«
»Wird die Tollwut es beenden?«
»Nein, das habe ich dir schon gesagt. Vernichten wird dich der Zorn: ein riesiger, weißer, schweigender Zorn, der in den Armen eines feuchten, warmen Windes kommt.«
»Die Schiffe der Weißen?«
Der Weise des Feuers zuckte fast unmerklich mit den Schultern.
»Möglich, daß es die Schiffe der Weißen sind«, flüsterte er. »Ich habe noch nie ein Schiff gesehen. Ich weiß nur, wenn es ausspuckt, dann ist sein Speichel wesentlich tödlicher als der Speichel Elegbas.«
»Aber warum?« beharrte der Mulatte. »Warum bricht soviel Unheil über mich herein?«
»Vielleicht sind die Götter nicht mit dir zufrieden«, meinte der Bamileke mit leichter Ironie. »In Wahrheit verabscheuen sie dich und haben für dich ein schreckliches Schicksal bestimmt.«
»Was für ein Schicksal?«
»Willst du das wirklich wissen?«
»Ja.«
»Es ist nicht angenehm.«
»Ich glaube nicht, daß es mir Furcht einjagt.«
»Wie du willst«, billigte der andere. »Die Götter haben beschlossen, daß du, weil dein Vater wegen dir vor Kälte gestorben ist, vor Hitze sterben wirst. Ich kann nicht wissen, wie das geschehen wird, aber ich kann sehen, wie sich die Glut jeder Pore deines Körpers bemächtigen wird, so wie die Kälte in jede Pore deines Vaters eingedrungen ist.« Seine Stimme klang etwas bedauernd, als er hinzufügte: »Du wirst die Qualen der Hölle erfahren, noch bevor du in sie hinabsteigst. Und die Götter werden dir nicht einmal die Möglichkeit der Klage geben, denn das ist das Ende, auf das du in eigener Verantwortung Tag für Tag und Schritt für Schritt zugehst.«
»Und wann wird dieses Ende kommen?« wollte sein Gegenüber wissen. »Bevor oder nachdem ich dir bei lebendigem Leib die Haut abgezogen habe?«
»Vorher…«, lautete die Antwort. »Lange vorher.«
»Wie kannst du da so sicher sein?«
»Zum einen, weil ich seit Jahren weiß, wann und auf welche Weise ich sterben muß«, befand der Weise des Feuers mit langerprobter Ruhe. »Und zum anderen, weil der Mond müde ist, dich zu sehen.«
»Und was bedeutet das?«
»Er wird nicht mehr erscheinen, bevor er dich nicht tot weiß. Die Sonne pflegt toleranter zu sein und scheint allen, Guten wie Bösen, gleichermaßen Tag für Tag, aber der Mond ist launisch, verbirgt sich und kehrt nicht wieder zurück, bis diejenigen, die er verabscheut, den Tod gefunden haben. Aus diesem Grund zeigt er bei seiner Rückkehr stets ein leichtes Lächeln.«
»Ammenmärchen!«
»Wahrscheinlich«, räumte der Zauberer ein. »Meiner Ansicht nach ist das nur eine alte Legende meines Volks, aber glaube mir, wenn ich dir versichere, daß du das Lächeln des Monds nicht mehr sehen wirst. Deine Zeit ist abgelaufen.«
Er machte eine leichte Geste, warf eine Handvoll Staub auf den Scheiterhaufen, aus der eine helle Stichflamme aufloderte. Ihr folgte dichter schwarzer Rauch, und als sich dieser verzogen hatte, mußte MulayAli erschrocken feststellen, daß sein Gegenüber verschwunden war.
Eine halbe Minute später öffnete sich eine winzige Pforte gleich neben der, durch die er eingetreten war. Als er ins Licht hinaustrat, stand JeanClaude Barriere vor den Mauern des Palasts und dem unendlichen Niger, dessen Oberfläche einem Meer aus Blut glich. In diesem Augenblick ging nämlich gerade die rote Sonnenscheibe am gegenüberliegenden Ufer unter.
Ganz offensichtlich hatte Sakhau Ndu die Position jener kleinen Pforte perfekt auszuwählen gewußt, ebenso den präzisen Augenblick, in dem er seine Besucher durch sie hinausschickte. Jeder, der einen schummrigen Raum verließ, dessen Boden eine leuchtende Glut war, und hinaustrat in einen afrikanischen Abend, in dem sowohl der Himmel als auch der Fluß sich in ein grelles Rot gefärbt hatten, wäre beeindruckt genug gewesen, um daran zu denken, daß die Natur wirklich mit dem allmächtigen Weisen des Feuers eine unzerstörbare Allianz geschlossen hatte.
Dennoch war der König vom Niger nicht in der Stimmung, die Schönheit der Landschaft zu bewundern. Und nackt, wie er war, überkam ihn das seltsame Gefühl, das letzte Wesen des Universums zu sein, das einzige Lebewesen, das noch immer atmete und das mit dem Rest des Universums verschwinden würde, sobald die leuchtende Sonne endgültig ins Wasser getaucht wäre.
Die kleine Pforte hatte sich hinter ihm geschlossen, und der kleine Palast schien förmlich zu strahlen. Der schlaue Schamane, der zweifellos ein Meister der Inszenierung war, hatte winzige Spiegelscherben in die hohen Mauern eingefügt. Diese reflektierten die Sonnenstrahlen im Abendlicht so sehr, daß man meinen konnte, es handelte sich bei dem Gebäude um eine fantastische Feuerwerksburg.