Eine Stunde vor Sonnenaufgang tauchte die Schaluppe auf, mit der Gaspar Reuter in Begleitung von sechs Männer auf Spähtrupp gegangen war. Seine Nachrichten waren äußerst beunruhigend.
»Eine große Flottille fährt den Fluß hinunter, und an den Ufern rücken tausend Krieger zu Fuß vor«, war das erste, was er sagte, als sich der Stab um den großen Tisch der Offiziersmesse versammelt hatte. »Unsere Informationen waren leider richtig: Ich schätze, daß wir es mit über zweitausend Wilden zu tun bekommen.«
»Kanonen…?« war das erste, was Sancho Mendana wissen wollte.
»Ein halbes Dutzend, kleines Kaliber, auf den Schultern getragen«, erwiderte der Engländer. »Ich glaube nicht, daß die uns Sorgen machen können. Das Problem liegt eher in der Zahl der Männer als in ihrer Bewaffnung. Wenn es ihnen gelingt, an Bord zu kommen, fallen sie über uns her wie eine Elefantenherde. Dazu brauchen sie nur ihre Lanzen und Macheten.«
»Wir müssen sie aber unbedingt auf Abstand halten«, mischte sich nun der Venezianer mit besonders rauher Stimme ein. Ihm behagte die Wendung der Ereignisse immer weniger. »Und in diesem Fall ist es vielleicht das Vernünftigste, ein paar Salven abzufeuern, die Anker zu lichten und uns von der Strömung flußabwärts treiben zu lassen, damit sie uns nicht zu nahe kommen.«
»Das erscheint mir mehr als problematisch«, gab ihm Celeste zu bedenken. »Ich möchte mich nicht in etwas einmischen, von dem ich nichts verstehe, aber meiner Meinung nach sind die Kanus wesentlich schneller und beweglicher als unsere Schiffe, und sie würden uns von hinten auf die Pelle rücken, wo wir am wenigsten Feuerkraft haben.« Sie machte eine Pause und sah die Männer der Reihe nach an. »Und eines muß uns klar sein: Wenn sie uns bis ins Delta zurückdrängen, sind wir ihnen ausgeliefert. In den Sümpfen haben wir nicht die geringste Chance, uns zu verteidigen.«
»Was empfiehlst du also?«
»Ich kann euch da nichts empfehlen«, erwiderte das Mädchen seelenruhig. »Ich sage nur, was ich denke, aber ich vertraue auf euer Urteilsvermögen.«
»Was glaubst du, hätte Jacare Jack gemacht?« fragte Kapitän Buenarrivo, womit er alle Anwesenden verblüffte.
»Mein Bruder…?« fragte Celeste verwundert. »Ich habe nicht die leiseste Idee.« Sie wandte sich ihrem Vater zu. »Du vielleicht?«
Miguel Heredia Ximenez rieb sich lange die Nase, während ihn alle aufmerksam ansahen, dann lächelte er ein wenig und befand:
»Sebastian hat immer gesagt, daß ein Hai keine Sardine frißt. Das heißt, wenn du eine gute Beute fangen willst, dann mußt du ihr einen guten Köder anbieten. Diesen Trick hat er bei Mombars angewendet, und er hat sich mehr als ausgezahlt. Meiner Meinung nach liegt dieser Fall ganz ähnlich.«
»In welcher Hinsicht?« wollte seine Tochter wissen.
»Daß ein augenscheinlich weit überlegener Feind seine Aufmerksamkeit auf etwas richten sollte, das in seiner Reichweite liegt, ohne mitzubekommen, wo die wirkliche Gefahr lauert. In gewisser Weise war Sebastian wie diese Gaukler, die Kaninchen aus dem Hut ziehen, während sie dir die Börse stehlen.«
»Und was für ein Kaninchen können wir in diesem Fall MulayAli servieren?« wollte Pater Barbas wissen.
»Das müssen wir uns überlegen«, orakelte der Alte. »Aber wenn wir eines finden, haben wir die Schlacht schon halb gewonnen.«
Sie diskutierten noch länger über die verschiedenen Möglichkeiten, die sich ihnen anboten, bis sich am Horizont das erste Morgenlicht ankündigte. In diesem Augenblick hörten sie von Norden her, zunächst fast nicht wahrnehmbar, aber bald immer deutlicher, ein unangenehmes Gejaule.
Sie stürzten an Deck, um genau hinzuhören.
»Was ist das?« wollte Sancho Mendana wissen.
Schließlich nickte der ehemalige Jesuit wiederholt mit den Kopf.
»Dudelsackbläser!« knurrte er. »Das sind schottische Dudelsäcke, die von einem halben Dutzend Hurensöhnen ohne das geringste musikalische Gespür geblasen werden.«
»Keine schlechte Kriegswaffe«, erkannte der Engländer Reuter mit seinem typischen Sinn für Humor. »Einfach nervenzerreißend.«
Kapitän Buenarrivo hörte einige Augenblicke lang zu, dann gab er dem Obermaat einen Wink, auf seine Befehle zu warten, und plötzlich ließ er einen scharfen Pfiff hören.
Drei Glockenschläge antworteten ihm.
»Alle Mann auf ihre Posten!« sagte er, ohne kaum die Stimme zu heben. »Klar zum Gefecht!«
In diesem Augenblick drang der erste Sonnenstrahl durch die schwarzen Nebelschwaden über der weiten Ebene im Osten, und alle bis zum letzten Mann wußten, was man von ihnen erwartete und was sie im Verlauf der Schlacht genau zu tun hatten.
Fünfzehn Minuten später ließen sich Dutzende, ja Hunderte von Booten von der Strömung auf die wartenden Schiffe zutreiben.
Im Auslug des Großmasts preßte Hauptmann Sancho Mendana ein Auge an das alte Fernglas, das ihm sein Vater an dem Tag geschenkt hatte, als er Kanonier wurde, und kalkulierte die Entfernung, die sie von den Booten trennte, wobei er sorgfältig die verwitterten Kerben an dem Rohr studierte, die er mit unendlicher Geduld vor Jahren eingeritzt hatte.
»Hohle Munition!« brüllte er schließlich zu den Kanonieren hinunter. »Laden und äußerste Reichweite!«
Er wartete ab, bis er sicher war, daß sie noch anderthalb Meilen von der Flottille der Boote trennten. Erst dann befahl er barsch:
»Deckbatterie Feuer!«
Im Herzen Schwarzafrikas erdröhnte der Donner des Todes.
Der Margariteno prüfte die Wirkung der ersten Salve, und fast sofort brüllte er wieder los:
»Mittlere Batterie Feuer!«
»Untere Batterie Feuer!«
»Sechsunddreißigpfünder laden!«
Aber auf den Donner des Todes folgte wie durch Zauberhand der Donner des Lebens. Als ob die schweren Kanonenschläge die schlafenden Wolken aufgeweckt hätten, die sachte über den Himmel zogen, begannen diese ihre schwere Fracht auf die Erde abzuladen. Binnen weniger Sekunden ergoß sich einer jener fürchterlichen tropischen Wolkenbrüche, die geradezu magisch das Antlitz der Welt verändern, auf den Niger.
Der Feind verschwand hinter einem dichten Wasservorhang. Die Entfernung war nicht mehr zu kalkulieren, und die Deckbatterien verstummten sofort, als das Pulver, während man die Kanonen nachlud, naß wurde.
Es goß wie aus Kübeln.
»Gütiger Himmel!«
»Damit hatten wir nicht gerechnet!«
Verwirrung breitete sich aus, die Männer blickten zum Achterkastell, als wollten sie ihre Befehlshaber um Hilfe bitten, und ihre Beklemmung wuchs, als sie sehen mußten, daß sich die gleiche Angst auch ihrer Anführer bemächtigt hatte.
»Was sollen wir tun?«
Keiner hatte darauf eine Antwort parat, und die Anspannung wurde noch größer, als man entdeckte, daß am rechten Flußufer an die tausend halbnackter Krieger auftauchten, leichte Kanus ins Wasser stießen und wie wild auf die Schiffe zuruderten.
»Schrot laden!« rief Sancho Mendana dem Ersten Offizier zu, der die Sebastian befehligte. »Ohne Befehl feuern!«
Man gehorchte sofort, aber fast die Hälfte der Kanonen feuerten nicht, und als zu sehen war, wie viele Musketen ebenfalls stumm blieben, sosehr sich die Schützen auch mühten, wurde Celeste Heredia klar, daß eine unweigerliche Katastrophe über sie hereinbrach.
Vom mangelnden Widerstand beflügelt, ruderten die Krieger im Takt weiter. Der schlaue Ian MacLean schien zu begreifen, daß er sich erst einmal auf die Fregatte konzentrieren mußte. Deren Reling lag viel tiefer als die der Galeone und war daher einfacher zu entern.
Daher befahl er den Ruderern, erst einmal auf die Fregatte loszusteuern. Von ihrem Deck aus konnte man dann die Dama de Plata entern. Als Celeste seine Absicht erkannte und sah, daß die Verteidiger nur schwachen Widerstand entgegensetzen konnten, beugte sie sich zu Kapitän Buenarrivo und meinte mit sichtlicher Sorge: