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Eine Stunde später war ihm außerdem klar, daß er nie mehr ruhig schlafen würde, solange der Unglückliche noch am Ausguck baumelte. So holte er eine Schaufel und machte sich auf den Weg zu der großen Hütte.

Er kam zu spät. Gaspar Reuter saß auf einer der verfallenen Stufen des Eingangs und betrachtete das Grab vor ihm, während er nachdenklich an einer langen eleganten Pfeife zog.

Er setzte sich neben ihn.

»Warum habt Ihr das getan?« wollte er nach einigen Minuten wissen.

Der andere zuckte lediglich mit den Schultern.

»Spielt das eine Rolle?« antwortete er schließlich.

»Es muß doch einen Grund geben.«

»Das meiste in meinem Leben habe ich ohne vernünftigen Grund getan. So auch das hier.«

»Wie kommt es, daß ein Mann mit Eurer Bildung, zweifellos ein wahrer englischer Edelmann, als Sklavenjäger auf einer gottverlassenen Karibikinsel landet?«

»Bildung macht keinen zum Edelmann. Nicht einmal einen Engländer. Wenigstens bietet sie keine Gewähr dafür, ewig einer zu bleiben. Wenn ein armer Teufel stürzt, fällt er nicht tief, denn sein Weg ist kurz. Wenn jedoch ein Gentleman in den Abgrund stürzt, dann fällt er tiefer als jeder andere.«

»Verstehe… Werdet Ihr die Männer suchen, um die Euch meine Tochter gebeten hat?«

Der andere nickte.

»Das werde ich tun.«

»Glaubt Ihr, daß es solche gibt?«

»Das hängt davon ab, was Ihr von ihnen wollt. Heute haben auf Jamaika viele keine sehr klare Vorstellung von ihrer Zukunft. Wenn Oberst Buchanan recht hat, daß die Insel für die Piraten keine Zuflucht mehr ist und Seeräuberei, Glücksspiel und Prostitution keine >ehrbaren< Berufe mehr sind, sondern nunmehr verachtet werden, dann ist aus der finsteren Nacht plötzlich helllichter Tag geworden, und die meisten werden wie Fledermäuse vom Sonnenlicht geblendet sein. Dafür, daß alles nur drei Minuten gedauert hat, ist der Wechsel gewaltig, viel zu gewaltig.«

»Und werden wir diesen Leuten vertrauen können?«

»Schon vor vielen Jahren habe ich gelernt, keinem zu vertrauen. Warum sollte sich das geändert haben?«

Eine lange Weile lang betrachteten sie eine Gruppe kreischender Papageien auf dem Zweig eines nahen SamanBaums. Schließlich brach Miguel Heredia das Schweigen:

»Meine Tochter macht mir Sorgen. Der Tod ihres Bruders scheint sie völlig verändert zu haben. Schon als Kind hat sie ihn verehrt, später hat sie jahrelang auf ihn gewartet, und jetzt hat sie ihn endgültig verloren.«

»Der Verlust der Menschen, die wir am meisten lieben, formt unseren Charakter«, entgegnete der Engländer ruhig. »Das weiß ich aus Erfahrung. Der Schmerz ist das einzige Feuer, das die Seele zum Glühen bringt. Das Traurigste ist, daß wir niemals wissen können, was aus ihr wird, wenn man sie in diesem Augenblick hämmert. Ich habe die Erniedrigung gewählt, während Eure Tochter sich offensichtlich in ein Abenteuer stürzen will, das ihrem Alter und ihrem Geschlecht nicht angemessen ist.« Er blickte ihn an. »Was genau will sie eigentlich?«

»Ich bin nicht sicher.«

»Wozu braucht sie diese Männer?«

Der andere blickte ihm tief in die Augen. Was er sah, schien ihn zu überzeugen, und schließlich fragte er:

»Werdet Ihr das Geheimnis für Euch bewahren?«

»Ihr habt das Wort von dem, was in mir von einem Edelmann geblieben ist.«

»Das genügt mir.« Miguel Heredia machte eine kurze Pause, fügte aber dann schnell hinzu: »Sie will ein Schiff ausrüsten und damit den Sklavenhandel bekämpfen.«

Der andere stand langsam auf, betrachtete die Lichtung vor der Hütte und dachte nach. Schließlich meinte er:

»Zweifellos ist sie noch verrückter, als ich dachte. Der Sklavenhandel ist inzwischen der größte Wirtschaftsfaktor unserer Zeit. Ohne Schwarze würden diese Ländereien brachliegen und ihre unendlichen Reichtümer vielleicht für immer verlorengehen. Die Sklaventransporte aus Afrika sind wie ein Fluß, größer als der Amazonas. Ihn aufhalten zu wollen ist so, als wolle man den Amazonas mit einem löchrigen Eimer aufhalten.«

»Trotzdem will sie es wagen.«

»Sie wird bei ihrem Abenteuer sterben.«

»Leider habe ich schon seit einiger Zeit den Eindruck, daß sie nicht übermäßig am Leben hängt.«

»Das gibt sich mit der Zeit«, erläuterte Gaspar Reuter. »Paradoxerweise schätzen wir unsere Haut um so mehr, je faltiger sie wird. Eine Alte, die nur noch einige Jahre vor sich hat, fürchtet den Tod mehr als zwanzig junge Leute, denen ein langes Leben bevorsteht.«

»Ihr scheint kein Mann zu sein, dem trotz seines Alters irgend etwas angst macht.«

»Etwas fürchte ich schon«, gestand der andere. »Noch tiefer in diesem üblen Metier zu versinken. Wenn ich durch die Berge streife und nach einer Spur suche, fühle ich mich wie ein Jagdhund. Manchmal bin ich gezwungen, in Exkrementen zu wühlen, um herauszufinden, ob ich einen Flüchtling vor mir habe. Ich kann Euch sagen, in diesen Augenblicken möchte ich mir am liebsten eine Kugel durch den Kopf jagen.«

»Jetzt habt Ihr die Gelegenheit, Euren Beruf zu wechseln. Schließt Euch uns an.«

Sein Gesprächspartner schien verblüfft zu sein und nahm wieder neben Miguel Heredia Platz. Als wolle er nicht glauben, was man ihm gerade gesagt hatte, fragte er: »Ihr fordert mich auf, von heute auf morgen Sklaven nicht mehr zu jagen, sondern zu befreien? Wißt Ihr eigentlich, wie absurd Euer Vorschlag ist?«

»Noch absurder scheint mir, daß ein englischer Gentleman durch die Berge streift und im Kot wühlt.«

»Da habt Ihr nicht ganz unrecht.«

»Also?«

Die Frage blieb unbeantwortet. Statt eine Antwort zu geben, ging der Rothaarige mit dem markanten Kinn zu seinem Pferd, das am anderen Ende der Lichtung wartete, bestieg es mühelos und bemerkte lediglich:

»Ich halte Euch auf dem laufenden.«

Die Büsche verschluckten ihn, als könnte die schwarze Stute durch den dichtesten Urwald traben, ohne auch nur einen Zweig zu knicken. Miguel Heredia verharrte noch einige Minuten so, bevor er beschloß, für die Seele des toten Kapitäns Tiradentes ein kurzes Gebet zu sprechen.

Celeste empfing ihn vor dem Portal des Hauses, drückte ihm einen dicken Kuß auf die Wange und rief begeistert aus:

»Wir haben ein Schiff!«

»Sicher?«

»De Graaf hat mir sein Angebot übermittelt, und ich habe es angenommen.« Triumphierend holte sie eine schwarze durchlöcherte Fahne hervor, die sie hinter ihrem Rücken verborgen hatte. »Ich soll mir daraus ein Kissen machen.«

»Ich würde mich gerne genauso freuen wie du, aber ich fühle mich überhaupt nicht sicher in der Angelegenheit. Ich halte das Ganze immer noch für Wahnsinn.«

»Als Sebastian noch lebte, dachtest du das Gegenteiclass="underline" Damals fandest du es eine großartige Idee.«

»Sebastian war ein Mann des Meeres, ein echter Kapitän, der eine ganze Mannschaft eingefleischter Piraten in Schach halten und sein Schiff an jeden Ort der Welt bringen konnte. Doch was weißt du über die Navigationskunst? Und wie sollen wir einen guten Kapitän oder wenigstens einen Steuermann finden, mit dem wir nicht schon am ersten Tag auf Grund laufen?«

Als einzige Antwort ging das Mädchen zu einem riesigen Schrank an der Rückwand des Hauses, öffnete eine der Schubladen und ließ einen Haufen Smaragde zum Vorschein kommen.

»Damit!« erwiderte sie. »Und mit den Kreditbriefen und dem ganzen Gold, das wir in der Umgebung vergraben haben. Wir sind reich, Vater. Unendlich reich! Und schon als kleines Kind habe ich gelernt, mit Geld bekommt man alles. Weißt du nicht mehr: Sogar meine Mutter hat sich verkauft.«

»Ich wollte mich niemals daran erinnern. Leider sorgst du jetzt dafür. Deine Mutter hat sich verkauft, aber es sind nicht alle so.«

»Das muß sich erst einmal zeigen. Im Augenblick brauche ich erst einmal gute Seeleute.«