Barrent nickte.
»Folgen Sie mir!« forderte ihn der Einäugige auf. Er bog in eine schmale Gasse ein. Barrent folgte ihm und umklammerte fest den Lauf seiner Nadelstrahlpistole. Mutanten durften dem Gesetz nach keine Waffen tragen; aber dieser hatte, wie viele von ihnen, einen Stock mit einer Eisenspitze. In engen Gassen konnte dies eine sehr gefährliche Waffe abgeben
Der Alte öffnete eine Tür und winkte Barrent herein. Barrent zögerte und dachte an die Geschichten von leichtgläubigen Bürgern, die in die Hände der Mutanten gefallen waren. Dann zog er die Waffe hervor und folgte dem Alten ins Innere.
Am Ende eines langen Ganges öffnete dieser eine weitere Tür und ließ Barrent in einen kleinen, schwach erleuchteten Raum treten. Als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte Barrent die Umrisse von zwei Frauen erkennen, die vor einem einfachen Holztisch saßen. Auf dem Tisch stand ein Topf mit Wasser, und darin befand sich ein faustgroßes Stück Glas, in das viele Facetten geschnitten waren.
Eine der Frauen war sehr alt und hatte kein einziges Haar auf dem Kopf. Die andere war jung und erstaunlich hübsch. Als Barrent näher an den Tisch trat, stellte er entsetzt fest, daß ihre Beine von den Knien an zusammengewachsen waren, eine schuppige Haut umgab sie, nach unten zu liefen sie in eine Art Fischschwanz aus.
»Was wünschen Sie zu erfahren, Bürger Barrent?« fragte die junge Mutantin.
»Woher wissen Sie meinen Namen?« fragte Barrent. Als er keine Antwort erhielt, sagte er: »Schön. Ich möchte Genaues über einen Mord wissen, den ich auf der Erde verübt habe.«
»Warum möchten Sie das?« fragte die junge Frau. »Wollen die Behörden Ihnen den Mord nicht zugestehen?«
»O doch, sie erkennen ihn an. Aber ich möchte gern wissen, warum ich ihn verübt habe. Es könnte ja sein, daß mildernde Umstände eine Rolle spielten. Vielleicht habe ich es nur zur Selbstverteidigung getan.«
»Ist das wirklich so wichtig?« fragte die junge Frau
»Ja!« antwortete Barrent mit Nachdruck. Er zögerte einen Moment und wagte dann den Sprung: »Tatsache ist, daß ich ein neurotisches Vorurteil gegen das Morden hege. Mir wäre es lieber, nicht töten zu müssen. Deshalb möchte ich gern wissen, warum ich auf der Erde einen Mord verübt habe.«
Die Mutanten blickten einander an. Dann grinste der alte Mann und sagte: »Bürger, wir werden Ihnen nach besten Kräften helfen
Auch wir Mutanten sind gegen den Mord, wohl deshalb, weil meistens wir es sind, die getötet werden. Wir mögen Bürger, die gleich uns fühlen.«
»Dann werden Sie also meine Vergangenheit erforschen?«
»So leicht ist das nicht«, erklärte die junge Frau. »Diese Fähigkeit gehört zu den Psi-Talenten und ist äußerst schwierig. Nicht immer gelingt es. Und manchmal deckt es auch Dinge auf,
die gar nicht aufgedeckt werden sollten.«
»Ich dachte, alle Mutanten könnten die Vergangenheit lesen, wann es ihnen beliebt«, sagte Barrent.
»Nein«, widersprach der alte Mann. »Das stimmt nicht. Erstens einmal sind nicht alle, die als Mutanten klassifiziert sind, echte Mutanten. Fast jede Deformierung oder Abnormität wird heutzutage Mutantismus genannt. Das ist eine bequeme Bezeichnung für alle, die den terrestrischen Vorstellungen der äußeren Erscheinung nicht entsprechen.«
»Aber es gibt doch echte Mutanten?«
»Gewiß. Aber selbst da gibt es Unterschiede. Manche weisen nur Verunstaltungen durch Strahleneinwirkung auf -Gigantismus, Mikrocephalie und dergleichen. Nur ganz wenige besitzen geringe Spuren von Psi-Talenten - obgleich alle Mutanten Anspruch darauf erheben.«
»Und Sie - können Sie es?« fragte Barrent.
»Nein. Aber Myla«, antwortete er und deutete auf die junge Frau. »Manchmal ist sie dazu fähig.«
Die junge Frau starrte in den Wassertopf auf das Facettenglas.
Ihre blassen Augen waren weit geöffnet, die Pupillen hatten sich stark vergrößert; ihr Körper mit dem Fischschwanz war steil aufgerichtet; die Alte stützte sie.
»Sie beginnt etwas zu sehen«, sagte der Mann. »Das Wasser und die Kristallkugel sind nur Einrichtungen, um ihre Aufmerksamkeit auf einen Punkt zu konzentrieren. Myla ist sehr gut, obzwar sie manchmal die Vergangenheit mit der Zukunft vermengt.
Das kann unangenehm sein und bringt das Talent in schlechten Ruf. Aber man kann nichts dagegen tun. Ab und zu taucht eben die Zukunft mit auf, und Myla muß sagen, was sie sieht. Letzte Woche sagte sie einem Hadji, daß er in vier Tagen sterben würde.« Der Alte kicherte. »Sie hätten seinen
Gesichtsausdruck sehen sollen.«
»Hat sie auch gesehen, wie er sterben würde?« fragte Barrent.
»Ja. Durch einen Messerstich. Der Ärmste wagte sich die ganzen vier Tage nicht aus dem Haus.«
»Und wurde er getötet?«
»Natürlich. Seine Frau tötete ihn. Sie ist eine zielbewußte Dame, habe ich mir sagen lassen.«
Barrent hoffte, daß Myla ihm seine Zukunft nicht verraten würde. Das Leben war schwierig genug ohne die Voraussagungen eines Mutanten
Sie blickte von dem Glas auf und schüttelte traurig den Kopf.
»Ich kann Ihnen nur sehr wenig sagen. Es ist mir nicht gelungen, den Mord selbst zu erkennen. Aber ich habe einen Friedhof gesehen und darin das Grabmal Ihrer Eltern. Da war ein alter Grabstein, vielleicht zwanzig Jahre alt. Der Friedhof befand sich in den Außenbezirken eines Ortes auf der Erde, der den Namen Youngerstun trägt.«
Barrent dachte angestrengt nach, aber der Name bedeutete ihm nichts.
»Außerdem habe ich einen Mann gefunden«, fuhr Myla fort, »der etwas über den Mord weiß. Er kann Ihnen darüber berichten, wenn er will.«
»Hat dieser Mann den Mord beobachtet?«
»Ja.«
»Ist er derjenige, der mich angezeigt hat?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete Myla. »Ich habe die Leiche gesehen. Sein Name war Therkaler. Dicht neben ihm stand ein Mann. Dessen Name ist Illiardi. «
»Befindet er sich hier auf Omega?«
»Ja. Sie können ihn in diesem Augenblick in dem Euphoriatorium in der Little Axe Street finden. Wissen Sie, wo das ist?«
»Ich werde es finden«, sagte Barrent. Er dankte der jungen Frau und bot ihr einen Lohn an, den sie aber ablehnte. Sie sah sehr unglücklich aus. Als Barrent gehen wollte, rief sie: »Seien Sie vorsichtig!«
Barrent blieb an der Tür stehen und fühlte einen eisigen Schauer den Rücken entlangrinnen. »Haben Sie meine Zukunft gelesen?« fragte er.
»Nur ein wenig«, antwortete Myla. »Nur, was in wenigen Monaten geschieht.«
»Was haben Sie gesehen?«
»Ich kann es nicht erklären. Was ich gesehen habe, ist unmöglich.«
»Sagen Sie mir, was es war.«
»Ich sah Sie tot. Und trotzdem waren Sie wieder nicht tot. Sie blickten auf eine Leiche, die in viele kleine Teile zersplittert war.
Und die Leiche waren Sie selbst.«
»Was hat das zu bedeuten?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Myla.
Das Euphoriatorium war ein großes, grell gestrichenes Gebäude, in dem es speziell gemischte Drogen und Betäubungsmittel gab.
Seine hauptsächlichsten Kunden waren Peons und einfache Bürger.
Barrent fühlte sich etwas unbehaglich, als er sich einen Weg durch die Menge bahnte und den Kellner fragte, wo er einen Mann namens Illiardi finden könnte.
Der Kellner deutete in eine Eckloge. Barrent sah einen glatzköpfigen, breitschultrigen Mann, der sich über ein winziges Glas Thanapiquita beugte. Barrent trat auf ihn zu und stellte sich vor.
»Angenehm«, antwortete Illiardi und trug den obligatorischen Respekt eines Residenten zweiter Klasse gegenüber einem Privilegbürger zur Schau. »Kann ich irgend etwas für Sie tun?«
»Ich möchte Ihnen gern ein paar Fragen über die Erde stellen«, begann Barrent.
»Kann mich nicht mehr an viel erinnern«, antwortete Illiardi.