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Schon lange hatte Barrent die Religion des Schwarzen als abergläubischen Unsinn abgetan. Jetzt aber, bei dem ernsten Ton von Jays Stimme, begann er zu zweifeln. Vielleicht bestand zwischen der allgemein üblichen Anbetung des Bösen und seiner tatsächlichen Existenz doch ein Unterschied.

»Aber wenn Sie ein bißchen Glück haben«, versuchte Jay ihn zu beruhigen, »werden Sie möglichst bald getötet. Jetzt will ich die Unterredung mit einigen letzten Instruktionen beenden.«

Noch immer die winzige Waffe in der Hand haltend, griff er mit der anderen in die Tasche und zog einen roten Stift hervor.

Mit einer schnellen, geübten Bewegung fuhr er mit dem Stift über Barrents Wangen und Stirn. Er war fertig, noch bevor Barrent zurückweichen konnte.

»Das kennzeichnet Sie als einen Gejagten«, sagte Jay. »Die Jagdmerkmale sind unauslöschlich. Und hier ist Ihre

Nadelstrahlwaffe, die Ihnen die Regierung zur Verfügung stellt.« Er zog eine Waffe aus der Tasche und legte sie auf den Tisch. »Die Jagd beginnt, wie ich vorhin schon erwähnte, beim ersten Schimmer der Dämmerung. Jeder kann Sie dann töten, nur die anderen Gejagten dürfen es nicht. Sie können auch jeden töten. Aber ich rate Ihnen, das nur mit äußerster Vorsicht zu tun. Das Geräusch und das Aufblitzen der Waffe haben schon viele Gejagte verraten.

Wenn Sie. ein Versteck aufsuchen, dann achten Sie darauf, daß Sie einen Hinterausgang haben. Vergessen Sie nicht, daß die anderen Tetrahyde weitaus besser kennen als Sie. Geübte Jäger haben im Laufe der vergangenen Jahre alle möglichen Verstecke entdeckt; viele der Gejagten werden schon während der ersten Stunden des Feiertages gefangen. Viel Glück, Bürger Barrent.«

Jay ging zur Tür. Er öffnete sie und drehte sich noch einmal zu Barrent um.

»Ich könnte hinzufügen, daß es eine ganz geringe Chance gibt, Leben und Freiheit während der Jagd zu bewahren. Aber da es verboten ist, kann ich Ihnen nicht verraten, was das ist.«

Norins Jay verbeugte sich und ging hinaus.

Nach mehreren Versuchen mußte Barrent feststellen, daß die roten Jagdzeichen wirklich unauslöschlich waren. Er verbrachte den Abend damit, die Nadelstrahlwaffe der Regierung auseinanderzunehmen und zu untersuchen. Wie vorauszusehen, war die Waffe beschädigt. Er zog es vor, seine eigene zu benutzen.

Dann traf er seine Vorbereitungen für die Jagd. Er packte einige Lebensmittel, eine Flasche Wasser, ein Seil, ein Messer, Ersatzmunition und eine zweite Nadel strahl waffe in einen kleinen Rucksack. Dann wartete er; gegen jede Vernunft hoffte er, daß Moera und ihre Organisation ihm eine letzte Gnadenfrist gewähren würden.

Aber er wartete vergebens. Eine Stunde vor der Dämmerung schulterte er seinen Rucksack und verließ den Antidotenladen.

Er hatte keine Ahnung, was die anderen Gejagten taten; aber ihm war ein Ort eingefallen, wo er vor den Jägern sicher sein könnte.

Die Autoritäten von Omega geben zu, daß sich im Charakter eines Gejagten ein Wandel vollzieht. Wenn es ihm gelingt, die Jagd als ein abstraktes Problem anzusehen, kann er vielleicht einen mehr oder weniger aussichtsreichen Plan entwerfen. Der typische Gejagte aber kann seine Gefühle nicht einfach unterdrücken, ganz gleich, wie intelligent er ist. Schließlich ist er der Gejagte. Panik überfällt ihn. Die Sicherheit liegt für ihn in Entfernungen und Verstecken. Er flieht so weit als möglich von seiner Wohnung; er steigt in die Abflußkanäle und unterirdischen Flußläufe. Er wählt die Dunkelheit statt des Lichts, zieht sich in verlassene Gegenden zurück.

Dieses Vorgehen ist den erfahrenen Jägern wohlbekannt. Und so ist es nur natürlich, daß sie zuerst die dunklen, entlegenen Orte absuchen, die unterirdischen Gänge, verlassenen Läden und Gebäude. Hier finden und erledigen sie die Gejagten mit unausweichlicher Präzision.

Barrent hatte das wohl bedacht. Er hatte seinen ersten instinktiven Wunsch, sich im verzweigten Abwässersystem von Tetrahyde zu verkriechen, beiseite geschoben. Statt dessen ging er eine Stunde vor Sonnenaufgang direkt zu den großen, hellerleuchteten Gebäuden, in denen sich das Ministerium für Spiele befand.

Da die Gänge noch leer zu sein schienen, betrat er das Gebäude schnell, las die Tafeln mit den Anweisungen und ging die Treppe zum dritten Stockwerk hinauf. Er kam an mehreren Büros vorbei und blieb endlich vor einer Tür mit der Aufschrift:

Norins Jay, stellvertretender Minister für Spiele, stehen. Einen Augenblick lauschte er, öffnete dann die Tür und trat ein. Der alte Mann entdeckte sofort die roten Merkmale auf seinem

Gesicht. Er zog eine Schublade auf und griff hinein.

Barrent wollte den alten Mann nicht töten. Er legte mit der defekten Waffe der Regierung an und zielte auf die Stirn des Beamten.

Jay taumelte gegen die Wand und knickte dann auf dem Boden in sich zusammen.

Barrent beugte sich über ihn und fühlte seinen Puls, der noch schlug. Er steckte dem Minister einen Knebel in den Mund und fesselte ihn, dann schob er ihn unter den Schreibtisch. Nun durchsuchte er die Schubladen und fand ein Schild: SITZUNG!

BITTE NICHT STÖREN. Dieses hängte er draußen an die Tür, die er hierauf verschloß. Schließlich zog er die eigene Nadel strahl waffe und setzte sich hinter den Tisch, um abzuwarten.

Es dämmerte, eine wäßrige Sonne ging über Omega auf. Vom Fenster aus konnte Barrent sehen, wie sich die Straßen füllten. In der Stadt herrschte eine karnevalartige Stimmung, zuweilen wurde sie durch das Zischen oder die Explosion einer Waffe noch erhöht.

Gegen Mittag war Barrent noch immer nicht entdeckt worden. Er blickte aus dem Fenster und stellte fest, daß er schlimmstenfalls über die Dächer entkommen konnte. Er war froh über diese Möglichkeit - er mußte an Jays Warnung denken.

Am Nachmittag hatte Jay sein Bewußtsein wiedererlangt.

Nach einigen Versuchen, die Fesseln abzustreifen, blieb er ruhig liegen.

Gegen Abend klopfte jemand an die Tür. »Minister Jay, darf ich eintreten?«

»Nicht jetzt«, sagte Barrent und hoffte, Jays Stimme einigermaßen glaubwürdig imitiert zu haben.

»Ich dachte, Sie wären an den Statistiken der Jagd interessiert«, sagte der Mann. »Bis jetzt haben die Bürger dreiundsiebzig Gejagte getötet. Das läßt nur noch achtzehn übrig. Eine beachtliche Verbesserung gegenüber dem letzten Jahr.«

»Allerdings«, antwortete Barrent.

»Die Anzahl derjenigen, die sich in den Kanalsystemen versteckte, war diesmal höher. Einige versuchten zu bluffen und blieben einfach zu Hause. Die Restlichen suchen wir jetzt an den üblichen Orten.«

»Ausgezeichnet«, antwortete Barrent.

»Keiner hat bis jetzt einen Ausbruch versucht«, fuhr der Mann fort.

»Komisch, daß die Gejagten so selten daran denken. Aber so brauchen wir wenigstens nicht die Maschinen einzusetzen.«

Barrent wußte nicht, wovon der Mann sprach. Den Ausbruch?

Wohin konnte man ausbrechen? Und wie wurden die Maschinen eingesetzt?

»Wir wählen schon jetzt Kandidaten für die Spiele aus«, fügte der Mann hinzu. »Ich hätte gern Ihre Zustimmung zur Liste.«

»Machen Sie das selbst«, sagte Barrent.

»Jawohl, Sir«, antwortete der Mann. Kurz darauf hörte er, wie sich die Schritte entfernten. Er schloß daraus, daß der Mann mißtrauisch geworden war. Die Unterhaltung hatte zu lange gedauert, er hätte sie schon früher abbrechen sollen. Vielleicht war es besser, ein anderes Büro aufzusuchen

Noch bevor er etwas unternehmen konnte, erfolgte ein lautes Klopfen an der Tür.

»Ja?«

»Bürgerliche Suchtruppe«, dröhnte eine tiefe Stimme. »Öffnen Sie, bitte! Wir haben Grund zu der Annahme, daß sich in Ihrem Büro ein Gejagter aufhält.«

»Unsinn«, erwiderte Barrent. »Sie dürfen den Raum nicht betreten.

Dies ist ein Regierungsbüro.«

»Wir dürfen«, ertönte wieder die tiefe Stimme. »Am Jagdtag ist kein Raum, kein Büro oder Gebäude verschlossen. Öffnen Sie also oder nicht?«