Barrent hatte sich bereits auf das Fenster zubewegt. Er riß es auf und hörte hinter sich das Hämmern an der Tür. Zweimal feuerte er gegen die Tür, um die Eindringlinge vorsichtiger zu machen; dann kletterte er aus dem Fenster.
Barrent stellte sofort fest, daß die Dächer von Tetrahyde wie das perfekte Versteck für einen Gejagten aussahen; deshalb war dies auch der letzte Platz, den ein Gejagter aufsuchen sollte. Das Labyrinth eng miteinander verbundener Dächer, Schornsteine, Vorbauten schien für eine Jagd wie geschaffen; aber es befanden sich auch hier schon Männer. Sie schrien laut auf, als sie seiner ansichtig wurden
Barrent begann zu laufen, die Jäger folgten ihm, und bald kamen von allen Seiten noch mehr herbeigeströmt. Er sprang über einen vier Meter breiten Spalt zwischen zwei Gebäuden. Es gelang ihm, sich an dem gegenüberliegenden, mit rauhen Ziegeln belegten Dach festzuklammern und die Balance zu halten. Die Angst spornte ihn zu schnellerem Lauf an. Er gewann einen größeren Vorsprung. Wenn er dieses Tempo noch zehn Minuten beibehalten könnte, wäre er vorläufig in Sicherheit. Dann könnte er vielleicht die Dächer verlassen und ein sicheres Versteck suchen.
Wieder tat sich vor ihm ein breiter Spalt auf. Barrent sprang ohne Zögern.
Er kam gut auf. Aber sein rechter Fuß brach durch die morschen Schindeln bis zur Hüfte ein. Er holte tief Atem und versuchte, sein Bein herauszuziehen, aber an dem schrägen Dach fand er keinen Halt.
»Da ist er!«
Barrent stemmte sich mit allen Kräften hoch. Die Jäger waren schon fast wieder in Reichweite der Nadelstrahlwaffen. Bis er das Bein befreit haben würde, würde er ein leichtes Ziel für seine Verfolger bieten
Als die Jäger auf dem nächsten Gebäude auftauchten, hatte er ein großes Loch ins Dach gerissen. Barrent zog das Bein heraus, und da er keine andere Wahl hatte, sprang er durch die Öffnung nach unten
Eine Sekunde lang schwebte er in der Luft, dann landete er auf einem Tisch, der unter ihm zusammenbrach. Er raffte sich hoch und sah, daß er im Wohnzimmer eines Hadjis war. Keine zwei Meter von ihm entfernt saß eine alte Frau in einem Schaukelstuhl. Entsetzt blickte sie ihn an und rührte sich nicht. Ganz automatisch schaukelte sie weiter, gleichmäßig vor und zurück.
Barrent hörte die Verfolger auf dem Dach über sich. Er lief zur Küche und durch die Hintertür unter einer Leine mit Wäsche hindurch an einer Hecke entlang. Jemand schoß aus dem zweiten Stockwerk auf ihn. Er blickte hinauf und bemerkte einen kleinen Jungen, der sich bemühte, eine schwere Hitzewaffe auf ihn zu richten. Anscheinend hatte sein Vater ihm verboten, mit auf die Straße zu gehen
Barrent wandte sich zur Straße und rannte, so schnell er konnte, bis er eine kleine Seitengasse erreichte. Sie kam ihm bekannt vor. Er stellte fest, daß er sich im Mutantenviertel befand, nicht weit von Mylas Haus entfernt.
Er konnte die Schreie der Jäger hinter sich hören. Er stürzte auf die Tür zu Mylas Wohnung zu. Die Tür war nicht verschlossen.
Sie saßen alle beisammen - der einäugige Mann, die glatzköpfige alte Frau und Myla. Sie zeigten bei seinem Eintritt kein Erstaunen
»Also haben sie Sie in der Lotterie ausgewählt«, sagte der alte Mann. »Na ja, wir hatten es nicht anders erwartet.«
»Hat Myla es denn vorhergesehen?« fragte Barrent.
»Das war gar nicht nötig«, antwortete der Alte. »Es war ganz klar voraussehbar, wenn man bedachte, was für ein Mensch Sie sind. Kühn, aber nicht unbarmherzig. Das ist Ihr Fehler, Barrent.«
Der alte Mann hatte die obligatorische Anredeform für einen Privileg-Bürger fallen lassen, was Barrent unter den Umständen ganz natürlich fand.
»Ich habe es die ganzen Jahre über immer wieder beobachtet«, sagte der alte Mann. »Sie wären überrascht, wie viele vielversprechende junge Männer in diesem Zimmer enden, außer Atem, mit einer Waffe in der Faust, drei Minuten hinter ihnen folgen die Jäger. Sie erwarten unsere Hilfe, aber wir Mutanten gehen Unannehmlichkeiten gern aus dem Weg.«
»Sei' still, Dem«, mischte sich die alte Frau ein.
»Schätze, wir werden Ihnen helfen müssen«, sagte Dem.
»Myla hat sich aus unergründlichen Erwägungen heraus dazu entschlossen.« Er lächelte ironisch. »Ihre Mutter und ich haben ihr gesagt, daß sie sich irrt, aber sie besteht darauf. Und da sie die einzige von uns ist, die die Vergangenheit erforschen kann, müssen wir sie gewähren lassen.«
»Selbst wenn wir Ihnen helfen, besteht nicht viel Hoffnung für Sie, die Jagd zu überleben«, sagte Myla.
»Wie soll Ihre Voraussage zutreffen, wenn ich getötet werde?« fragte Barrent. »Erinnern Sie sich noch, Sie sahen mich, wie ich auf meine eigene Leiche niederblickte, und diese war in einzelne Teile zerspalten.«
»Ich erinnere mich«, antwortete Myla. »Aber Ihr Tod hat keinen Einfluß auf die Voraussage. Wenn sie sich nicht zu Ihren Lebzeiten erfüllt, dann eben in einem neuen Leben.«
Barrent war nicht befriedigt. »Was soll ich tun?«
Der alte Mann gab ihm ein paar alte Lumpen. »Ziehen Sie das hier an. Ich werde mich Ihres Gesichtes annehmen. Sie werden sich in einen Mutanten verwandeln, mein Freund.«
Schon nach kurzer Zeit war Barrent wieder auf der Straße. Lumpen hüllten ihn ein. Darunter hielt er seine Nadelstrahlwaffe in der einen Hand, mit der anderen umklammerte er einen Betteltopf.
Der alte Mann hatte verschwenderisch mit rosagelblichem Plastikmaterial gearbeitet. Barrents Gesicht wies jetzt an der Stirn eine ungeheure Schwellung auf, seine Nase war flach und reichte fast bis zu den Backenknochen. Die Form des ganzen Gesichts war verändert, so daß die Jagdzeichen versteckt waren.
Eine Gruppe Jäger eilte an ihm vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Barrent fühlte Hoffnung in sich aifsteigen. Er hatte kostbare Zeit gewonnen. Die letzten Strahlen von Omegas wäßriger Sonne verschwanden hinter dem Horizont. Die Nacht würde ihm zusätzliche Sicherheit geben, und mit einigem Glück würde er den Jägern vielleicht bis zur Morgendämmerung entgehen. Natürlich standen ihm dann noch die Spiele bevor; aber Barrent beabsichtigte nicht, sich an ihnen zu beteiligen. Wenn seine Verkleidung gut genug war, ihn vor einer ganzen jagenden Stadt zu schützen, sah er keinen Grund, warum er für die Spiele gefangen werden sollte.
Wenn der Feiertag vorüber war, konnte er vielleicht sogar wieder in der Gesellschaft von Omega auftauchen. Es war auch möglich, daß man ihn besonders belohnen und auszeichnen würde, wenn es ihm gelang, der Jagd und den Spielen zu entgehen. Solch ein vermessenes und erfolgreiches Brechen des Gesetzes mußte einfach ausgezeichnet werden..
Er sah eine neue Gruppe Jäger auf sich zukommen. Es waren fünf, und unter ihnen befand sich Tem Rend, der in seiner neuen Uniform der Mördergilde düster und stolz wirkte.
»He, du!« rief ihm einer der Jäger zu, »hast du eine Jagdbeute in dieser Gegend gesehen?«
»Nein, Bürger«, antwortete Barrent und senkte respektvoll den Kopf, die Waffe griffbereit unter den Lumpen.
»Glaub ihm nicht«, sagte ein anderer. »Diese verdammten Mutanten verraten doch nie etwas.«
»Kommt, wir werden ihn schon finden«, schlug ein anderer vor. Sie gingen weiter, nur Tem Rend blieb etwas zurück.
»Bist du sicher, daß du keinen Gejagten gesehen hast?« fragte
er.
»Ganz sicher, Bürger«, antwortete Barrent. Er war sich nicht im klaren, ob Rend ihn erkannt hatte. Er wollte ihn nicht töten; besser gesagt, er wußte nicht, ob er das überhaupt konnte, denn Rends Reaktionen waren unheimlich schnell. Im Augenblick hing Rends Waffe locker in seiner Hand, während Barrent seine schon angelegt hielt. Der Vorteil dieses Bruchteils einer Sekunde würde Rends größere Schnelligkeit und Genauigkeit vielleicht ausgleichen. Aber wenn es hart auf hart ging, dachte Barrent, würden sie sich beide wahrscheinlich gegenseitig töten
»Nun«, sagte Rend leise, »wenn du aber nun doch noch zufällig einen der Gejagten sehen solltest, so rate ihm davon ab, sich als Mutant zu verkleiden.«