»Warum?«
»Dieser Trick bewährt sich nie lange«, antwortete Rend ruhig.
»Vielleicht eine Stunde. Dann entdecken ihn die Spitzel. Wenn ich zum Beispiel gejagt werden sollte, würde ich mich vielleicht auch als Mutant verkleiden. Aber ich würde nicht einfach auf einem Rinnstein sitzenbleiben. Ich würde versuchen, aus Tetrahyde auszubrechen.«
»Tatsächlich?«
»Ganz gewiß. Jedes Jahr flüchten ein paar Gejagte in die Berge.
Die Behörden sprechen nicht offen darüber - das ist ja verständlich.
Und die meisten Bürger wissen folglich auch nichts davon. Aber die Mördergilde hat eine Beschreibung aller je angewandten Tricks, Verkleidungen und Schliche. Das gehört zu unserem Geschäft.«
»Sehr interessant«, sagte Barrent. Er wußte, daß Rend ihn erkannt hatte. Tem benahm sich wie ein guter Nachbar -allerdings auch wie ein schlechter Mörder.
»Natürlich ist es nicht leicht, aus der Stadt zu fliehen«, erklärte Rend. »Und wenn man erst mal draußen ist, heißt das noch lange nicht, daß man außer Gefahr ist. Auch dort gibt es Jagdgruppen, die die Gegend durchstreifen, aber was noch schlimmer ist -«
Rend unterbrach sich abrupt. Eine andere Jagdtruppe kam auf sie zu. Rend nickte ihm freundlich zu und ging davon
Nachdem die Jäger vorüber waren, stand Barrent auf und schritt die Straße entlang. Rend hatte ihm einen guten Rat gegeben.
Natürlich flüchteten manche aus der Stadt. Zwar würde das Leben in den kahlen Bergen von Omega äußerst schwierig sein, aber jede Schwierigkeit war besser als der Tod. Wenn es ihm gelang, an den Stadttoren vorbeizukommen, mußte er auf die Jagdpatrouillen aufpassen. Und Tem hatte etwas noch Furchtbareres erwähnt. Barrent überlegte, was das sein könnte. Vielleicht besonders geschulte Bergjäger? Das unstete Wetter Omegas?
Tödliche Flora oder Fauna? Er wünschte, Rend hätte seinen Satz beenden können. Die Nacht brach herein, als er das Südtor erreichte. Tief nach vorn gebeugt, humpelte er auf das Wachhaus zu, das ihm den Weg nach draußen versperrte.
Die Wachen machten keine Schwierigkeiten. Ganze Mutantenfamilien strömten aus der Stadt, um vor der Wildheit und den Ausschweifungen der Jagd in den Bergen Schutz zu suchen. Barrent schloß sich einer Gruppe an und befand sich bald eine Meile von Tetrahyde entfernt in den flachen Hügeln, die die Stadt in einem Halbkreis umgaben
Hier hielten die Mutanten an und richteten sich ein Lager. Barrent marschierte weiter. Gegen Mitternacht kletterte er einen steilen Pfad zu einem der höchsten Berge hinauf. Er verspürte Hunger und fühlte sich matt, aber die kühle, klare Luft belebte ihn.
Allmählich begann er daran zu glauben, daß er die Jagd tatsächlich überleben würde.
Aus der Ferne hörte er eine geräuschvolle Jagdgruppe, die die Hügel absuchte. Es gelang ihm leicht, ihr in der Dunkelheit auszuweichen, und er kletterte immer höher. Bald war kein Laut mehr zu vernehmen, außer dem gleichmäßigen Rauschen des Windes an den Klippen. Es war gegen zwei Uhr morgens. Nur noch drei Stunden bis zum Sonnenaufgang!
Es begann zu regnen, zuerst leicht, dann immer stärker. Das war ein typisches Wetter für Omega. Ebenso typisch waren die Gewitterwolken über den Bergspitzen, der Donner und die gelben Blitze.
Barrent fand in einer kleinen Höhle Schutz und betrachtete es als ein Glück, daß die Temperatur noch nicht gesunken war.
Fast wäre er eingenickt. Er saß in der Höhle - die Überreste seines Makeups flossen an seinem Gesicht entlang und über die Steine vor der Höhle. Plötzlich bemerkte er in dem grellen Aufleuchten eines Blitzes etwas über den Abhang herankriechen und direkt auf die Höhle zukommen
Die Waffe schußbereit in der Hand, erhob er sich und wartete auf einen weiteren Blitz. Als er aufzuckte, sah er das kalte, nasse Glitzern von Metall, das Flackern von rotem und grünem Licht, ein paar Metalltentakel, die sich über Felsen und kleine Büsche hinwegtasteten.
Es war eine Maschine, ähnlich der, gegen die Barrent in dem Saal des Justizministeriums gekämpft hatte. Jetzt wußte er, wovor ihn Rend hatte warnen wollen. Und er konnte auch verstehen, warum wenige der Gejagten zu entfliehen vermochten, selbst wenn sie die Stadt verlassen hatten. Diesmal würde Max nicht nach Zufallsstatistiken vorgehen, um einen gleichwertigen Kampf zu bieten. Und es würde auch keine Batterie an seiner Unterseite offen daliegen
Als Max in Schußweite kam, feuerte Barrent. Der Treffer prallte harmlos an der Maschine ab. Barrent verließ den Schutz seiner Höhle und kletterte weiter aufwärts.
Die Maschine folgte ihm mit gleichmäßigen Bewegungen über den schlüpfrigen, nassen Gebirgspfad. Barrent versuchte ihn auf dem mit dicken Felsblöcken übersäten Plateau abzuhängen, aber Max ließ sich nicht abschütteln. Barrent wurde sich bewußt, daß die Maschine irgendeiner chemischen Spur folgen mußte; wahrscheinlich dem Geruch, der den unauslöschlichen Merkmalen auf seinem Gesicht anhaftete.
Nun versuchte Barrent es auf andere Weise. Von der Höhe einer steilen Felswand rollte er Felsbrocken auf die Maschine und hoffte, dadurch eine Lawine ins Rollen zu bringen. Den meisten Blöcken wich Max aus, die restlichen polterten ohne sichtliche Wirkung auf ihn und wieder von ihm herab.
Endlich wurde Barrent in eine enge, steilabfallende Felsnische gedrängt. Er vermochte nicht höher zu klettern. Er wartete. Als sich die Maschine über ihn schwang, hob er die Nadelstrahlwaffe gegen die Metalloberfläche und feuerte.
Max erzitterte einen Moment von dem Stoß. Dann stieß die Maschine Barrent die Waffe aus der Hand und legte ihm einen Fangarm um den Hals. Die Klammer verstärkte sich und wurde enger. Barrent fühlte, wie er das Bewußtsein verlor. Es blieb ihm gerade noch Zeit zu überlegen, ob die Klammer ihn erwürgen oder sein Genick brechen würde.
Plötzlich ließ der Druck nach. Die Maschine war ein Stück zurückgefahren. Hinter ihr sah Barrent die ersten grauen Strahlen der Morgendämmerung aufsteigen
Er hatte die Jagd überlebt. Die Maschine hatte die Anweisung, die Jagdzeit einzuhalten. Aber sie ließ ihn nicht gehen. Sie hielt ihn auf dem schmalen Felsgrad gefangen, bis die Jäger kamen
Diese ließen nicht lange auf sich warten
Sie brachten Barrent zurück nach Tetrahyde, wo ihm eine brodelnde Menschenmenge einen jubelnden Empfang bereitete, wie einem Helden. Nach zweistündigem Umzug brachte man Barrent und vier weitere Überlebende in das Büro des Auszeichnungskomitees.
Der Vorsitzende hielt eine kurze, aber bewegte Rede über die Geschicklichkeit und den Mut, die sie durch das Überleben der Jagd bewiesen hatten. Er verlieh allen den Rang eines Hadjis. Jeder bekam den kleinen goldenen Ohrring, der ihn als solchen auswies.
Am Schluß der Zeremonien wünschte er den neuen Hadjis einen leichten Tod während der Spiele.
Wachen führten Barrent aus dem Büro des AuszeichnungsKomitees. Sie brachten ihn in das Gefängnis unter der Arena und sperrten ihn in eine Zelle. Höflich forderten sie ihn auf, Geduld zu haben; die Spiele hatten bereits begonnen, und bald würde, auch et an der Reihe sein. Neun Männer drängten sich in der kleinen Zelle, die dazu geschaffen war, höchstens drei zu beherbergen. Die meisten hockten in völliger Apathie auf dem Boden und hatten sich bereits mit ihrem Tod abgefunden. Einer von ihnen schien allerdings nicht ein bißchen resigniert. Er drängte sich zum Eingang vor, als Barrent eintrat.
»Joe!«
Der kleine Betrüger grinste. »Kein angenehmer Ort für ein Wiedersehen, Will.« »Was ist mit dir passiert?«
»Politik«, antwortete Joe. »Politik ist eine gefährliche Beschäftigung auf Omega, besonders während der Spiele. Ich fühlte mich sicher. Aber...« Er zuckte die Achseln. »Heute morgen hat man mich für die Spiele ausgewählt.«
»Besteht noch irgendeine Chance davonzukommen?«