Vorsichtig öffnete er die Tür zum Gang und blickte hinaus.
Obgleich er in eine perfekt nachgeahmte Uniform gekleidet war, war er sich wohl bewußt, daß er unter Männern, die einander gut kannten, nicht lange unentdeckt bleiben würde. Er mußte sich versteckt halten. Aber er brauchte Luft!
Die Gänge lagen verlassen da. Er schlich an dem Aufenthaltsraum der Wachen vorbei und hörte leises Gemurmel. Über der Tür leuchtete hell die grüne Lampe. Barrent hastete weiter, er spürte bereits ein leichtes Schwindelgefühl. Sein kleines Meßgerät zeigte ihm, daß auch der Sauerstoffgehalt in den Gängen stark nachließ.
Die Gruppe Zwei hatte angenommen, daß das Durchlüftungssystem im gesamten Schiff funktionieren würde. Jetzt mußte Barrent einsehen, daß es nicht erforderlich war, das ganze Schiff mit Sauerstoff zu versorgen, da nur die Wachen und das Schiffspersonal an Bord waren. Nur in den Wohnräumen der Besatzung und im Aufenthaltsraum der Wachen würde es frische Luft geben.
Barrent lief die schwach erleuchteten, ausgestorbenen Gänge entlang; er keuchte vor Erschöpfung. Die Luft wurde von Sekunde zu Sekunde schlechter. Vielleicht wurde der Sauerstoff in dem Aufenthaltsraum verwendet, bevor die Hauptversorgungsleitung des Schiffes angezapft wurde.
Er kam an vielen unverschlossenen Türen vorbei, aber nirgends glühte die grüne Lampe darüber auf. Sein Kopf dröhnte, und seine Beine fühlten sich an, als würden sie zu Pudding.
Krampfhaft überlegte er, was er tun sollte.
Die Räume der Besatzungsmitglieder schienen ihm die größte Chance zu bieten. Vielleicht waren diese nicht bewaffnet. Und selbst wenn das der Fall war, so würden sie ihre Waffen hoffentlich nicht so flink bei der Hand haben wie die Wachen. Vielleicht konnte er einen der Offiziere mit der Waffe in Schach halten; vielleicht konnte er sogar den Befehl über das Schiff übernehmen
Der Versuch lohnte sich. Er mußte ihn wagen.
Am Ende des Ganges erreichte er eine Treppe. Er stieg an mehreren völlig verlassenen Stockwerken vorbei und kam endlich zu einer großen Aufschrift an der Wand. KONTROLLABTEILUNG, las er.
Daneben war ein langer Pfeil aufgemalt, der die Richtung
angab.
Barrent zog die Nadelstrahlwaffe aus der Tasche und taumelte den Korridor entlang. Allmählich verlor er das Bewußtsein.
Schwarze Schatten tanzten vor seinen Augen. Verzerrte Gestalten, Halluzinationen, Schreckgespenster tauchten vor ihm auf. Er kroch auf Händen und Füßen weiter, auf eine Tür zu. Mit letzter Anstrengung zog er sich etwas hoch und las: KONTROLLRAUM EINTRITT VERBOTEN! NUR FÜR SCHIFFSOFFIZIERE!
Der Korridor schien sich mit einem grauen Nebel zu füllen
Dann hellte er sich wieder auf. Barrent stellte fest, daß er die Augen nicht mehr auf einen Punkt zu konzentrieren vermochte. Er zog sich noch weiter hoch und zerrte am Türgriff. Langsam öffnete sich die Tür. Er umklammerte seine Waffe noch fester und versuchte sich auf eine Handlung vorzubereiten
Aber sobald er die Tür geöffnet hatte, hüllte ihn eine undurchdringliche Schwärze ein. Er glaubte erschrockene Gesichter zu sehen, das Rufen von Stimmen zu hören: »Vorsicht! Er ist bewaffnet!« Und dann stürzte er kopfüber in die Schwärze und fiel endlos lange, immer tiefer und tiefer.
Barrents Rückkehr ins Bewußtsein ging ganz plötzlich vor sich.
Er setzte sich auf und stellte fest, daß er in den Kontrollraum gestürzt war. Die Metalltür hatte sich wieder hinter ihm geschlossen. Er atmete ohne Schwierigkeiten. Von den Mannschaften war nichts zu sehen. Sie mußten gegangen sein, um die Wachen zu holen, in der Annahme, daß er noch länger bewußtlos bleiben würde.
Er stand auf, instinktiv nahm er seine Waffe vom Boden. Er untersuchte sie genau, runzelte die Stirn und steckte sie wieder ein. Warum, so fragte er sich, sollte die Besatzung ihn allein in der Steuerzentrale zurücklassen, dem wichtigsten Teil des Schiffes? Warum hatten sie ihm seine Waffe gelassen?
Er versuchte sich an die Gesichter zu erinnern, die er gesehen hatte, kurz bevor er ohnmächtig geworden war. Es waren ungenaue Vorstellungen, vage und verschwommene Gestalten mit hohlen, traumhaften Stimmen. Waren wirklich Menschen hier gewesen?
Je mehr er darüber nachdachte, um so mehr wurde es ihm zur Gewißheit, daß diese Leute nur Sinnestäuschungen seines schwindenden Bewußtseins gewesen waren. Niemand war hier gewesen. Er befand sich ganz allein im Nervenzentrum des Schiffes. Noch immer mißtrauisch, näherte er sich der Hauptkontrolltafel. Sie war in zehn Sektoren aufgeteilt. Jeder Sektor hatte eine eigene Reihe von Schaltern und Knöpfen, unter denen kurze Bezeichnungen vermerkt waren.
Langsam musterte Barrent die verschiedenen Abschnitte des Schaltpults und beobachtete das Lichtmuster, das über die unzähligen Lämpchen huschte. Der letzte Abschnitt schien einer übergeordneten Kontrolle zu dienen. Auf einer kleinen Sichtscheibe stand: KOORDINATION,
HANDBEDIENUNG/AUTOMATIK. Der Teil für AUTOMATIK war beleuchtet. Es gab noch ähnliche Schalteinheiten - für Navigation, für die Sicherung vor Zusammenstößen, für den Übergang in den Hyperraum, für den Eintritt in die Atmosphäre und für die Landung. Alle waren auf automatische Schaltung gestellt. Weiter hinten fand er die Programmierungstafel, die vorgesehenen Daten waren aus der Schalterstellung ersichtlich. Der Zeitabstand bis zum Kontrollpunkt betrug jetzt 29 Stunden, 4 Minuten, 51 Sekunden. Die vorgesehene Aufenthaltszeit drei Stunden. Die Zeit vom Kontrollpunkt bis zur Erde: 480 Stunden
Die Steueranlage flackerte und summte ruhig und selbstsicher.
Barrent konnte sich des Gefühls nicht erwehren, daß die Anwesenheit eines Menschen in dieser Maschinerie einer Tempelschändung gleichkam. Er überprüfte die Luftklappen.
Sie waren auf automatische Speisung eingestellt und gaben gerade genug Sauerstoff ab, um für die Anwesenheit eines menschlichen Wesens in der Zentrale zu genügen
Aber wo war die Besatzung? Barrent verstand die Notwendigkeit, ein Raumschiff im großen und ganzen mit automatischer Schaltung funktionieren zu lassen. Ein System, das so groß und kompliziert war wie dieses, mußte sich selbst steuern können
Aber der Mensch hatte es gebaut, und der Mensch hatte es auch programmiert. Warum also waren keine Menschen zugegen, um die Schalttafeln zu überwachen, das Programm zu verändern, falls sich dies als notwendig erwies? Angenommen, die Wachen wären länger auf Omega aufgehalten worden? Angenommen, es würde sich als notwendig erweisen, am Kontrollpunkt vorbeizufahren und die Erde direkt anzusteuern? Angenommen, es ergab sich eine Zwangslage, aus der heraus der gesamte Bestimmungsort geändert werden mußte? Wer stellte die neue Programmierung ein, wer gab dem Schiff Befehle, wer besaß die leitende Intelligenz, die die gesamte Operation zu führen vermochte?
Barrent blickte sich im Kontrollraum um. Er fand einige Notausrüstungen mit Sauerstoffbehältern und Masken. Eine davon legte er an und ging hinaus in den Korridor.
Nach geraumer Zeit erreichte er eine Tür mit der Aufschrift BESATZUNGSUNTERKÜNFTE. Er ging hinein. Alles war ordentlich und sauber, aber leer. Die Betten standen gerade ausgerichtet nebeneinander, ohne Decken und Laken. In den Schränken hingen keine Kleidungsstücke, lagen keine persönlichen Habseligkeiten irgendwelcher Art. Barrent ging in die Offizierskajüten und in die Kabine des Kapitäns. Er fand kein Zeichen dafür, daß sie noch kürzlich bewohnt worden waren.
Er ging zum Kontrollraum zurück. Es war ganz offensichtlich, daß das Schiff keine Besatzung besaß. Vielleicht waren die Autoritäten auf der Erde so überzeugt von der Unfehlbarkeit ihrer Pläne und der Verläßlichkeit ihrer Schiffe, daß sie eine Besatzung für überflüssig hielten. Vielleicht...
Aber eine derartige Einstellung erschien Barrent äußerst leichtsinnig. Es war höchst seltsam, daß die Erde ihre Raumschiffe ohne menschliche Oberaufsicht operieren ließ!