Wonderson blickte auf die Ringe. »Ich nehme an, daß diese hier vielleicht einen sentimentalen Wert besitzen.«
»Das stimmt. Seit Generationen sind sie in unserem Familienbesitz.«
»Aber dann will ich sie Ihnen wirklich nicht abnehmen«, wehrte Wonderson ab. »Bitte, keine Argumente! Gefühle sind die kostbarsten aller Besitztümer. Ich könnte nicht mehr ruhig schlafen, wenn ich nur eines dieser Familienerbstücke von Ihnen annehmen würde.«
»Aber wie soll ich denn sonst bezahlen?«
»Zahlen Sie, wann es Ihnen beliebt.«
»Sie wollen sagen, Sie vertrauen mir, obgleich Sie mich gar nicht kennen?«
»Aber ganz gewiß doch«, antwortete Wonderson. Er lächelte schelmisch. »Sie probieren wohl eine Ihrer Interview-Methoden aus, was? Nun, selbst ein Kind weiß doch, daß sich unsere Zivilisation auf Vertrauen aufbaut. Es ist ein Grundsatz, jedem Fremden zu vertrauen, bis er unmißverständlich bewiesen hat, daß er dieses Vertrauen nicht verdient.«
»Sind Sie denn noch nie betrogen worden?«
»Natürlich nicht. Heutzutage ist das Verbrechen nicht existent.«
»Und wie erklären Sie sich dann Omega?« fragte Barrent.
»Was meinen Sie?«
»Omega, den Gefangenenplanet. Sie haben sicher davon gehört.«
»Ich glaube, ja«, antwortete Wonderson vorsichtig. »Vielleicht hätte ich besser sagen sollen, daß es fast keine Verbrecher mehr gibt. Ich schätze, ein paar Typen, die von Geburt an verbrecherisch veranlagt sind, gibt es immer. Aber die kann man leicht als solche erkennen. Im übrigen sollen es nicht mehr als zehn oder zwölf im Jahr sein - bei einer Bevölkerung von beinahe zwei Milliarden.« Er setzte ein breites Grinsen auf. »Meine Chance, einem zu begegnen, ist außerordentlich gering.«
Barrent mußte an das Gefangenenschiff denken, das beständig zwischen Omega und der Erde hin- und herfuhr, seine menschliche Fracht auslud und unermüdlich neue herb ei schaffte. Er fragte sich, woher Wonderson seine Statistiken bezog. Und noch mehr wunderte er sich darüber, wo die Polizei steckte. Seit er das Raumschiff verlassen hatte, war ihm keine einzige Militäruniform begegnet. Er hätte gern danach gefragt, aber es schien ihm klüger, dieses Thema abzubrechen
»Vielen Dank für den Kredit«, sagte er statt dessen. »Ich werde so bald als möglich mit dem Geld wiederkommen.«
»Natürlich«, antwortete Wonderson und schüttelte ihm herzlich die Hand. »Aber lassen Sie sich ruhig Zeit. Es eilt ja nicht.«
Barrent dankte ihm noch einmal und verließ den Laden
Jetzt hatte er einen Beruf. Und wenn die anderen Leute genauso dachten wie Wonderson, hatte er auch unbegrenzten Kredit. Er befand sich auf einem Planeten, der dem ersten Eindruck nach eine Utopie zu sein schien. Allerdings wies diese Utopie auch gewisse Widersprüche auf. Er hoffte, in den nächsten Tagen mehr darüber zu erfahren.
Einen Häuserblock weiter entfernt fand er ein Hotel. Er mietete sich ein Zimmer für eine Woche - auf Kredit.
Am Morgen darauf fragte sich Barrent zu der nächstgelegenen Zweigstelle der öffentlichen Bibliothek durch. Er brauchte historische Informationen. Wenn er die Entwicklung der Zivilisation auf der Erde kannte, konnte er sich bessere Vorstellungen davon machen, was ihn erwartete und worauf er achtgeben mußte., Die Kleidung eines Meinungsforschers, die er jetzt trug, gewährte ihm Zutritt zu den sonst nicht zugänglichen Büchergestellen; wo die Geschichtsbücher aufbewahrt wurden. Aber die Bücher selbst enttäuschten ihn. Die meisten behandelten die alte Geschichte, von den urzeitlichen Anfängen bis zum Aufkommen der Atomkraft. Flüchtig blätterte er sie durch. Während des Lesens erinnerte er sich an verschiedene Dinge, die er früher einmal gewußt haben mußte, und daher konnte er schnell von den alten Griechen über das Römische Reich, Karl den Großen, das Mittelalter, die Normannenkriege bis zum Dreißigjährigen Krieg überwechseln; danach überflog er kurz die Napoleonische Ära.
Sorgfältiger studierte er die Weltkriege. Das Buch endete mit der Explosion der ersten Atombombe. Die anderen Bücher auf dem Regal enthielten nur ergänzende Bemerkungen zu den verschiedenen Stadien, die er schon kennengelernt hatte.
Nach längerem Suchen fand Barrent ein dünnes Werk mit dem Titel >Das Nachkriegs-Dilemma, Teil 1< von Arthur Whittler. Es begann dort, wo die Geschichtsbücher aufgehört hatten, mit den Explosionen der Atombomben über Hiroshima und Nagasaki.
Barrent setzte sich und begann mit einem sorgfältigen Studium.
Er erfuhr von dem Kalten Krieg der Jahre um 1950, in denen mehrere Nationen im Besitz von Wasserstoffbomben waren
Schon damals, so schrieb der Autor, existierten die Ursprünge einer massiven und lächerlichen Übereinstimmung in den Nationen der Welt. In Amerika herrschte eine wahnwitzige Furcht vor dem Kommunismus. In Rußland und China wiederum herrschte eine wahnwitzige Furcht vor dem Kapitalismus. Eine neutrale Nation nach der anderen wurde entweder ins eine oder ins andere Lager gezogen. Zum Zweck der inneren Sicherheit bedienten sich alle Länder raffinierter Propagandamethoden. Jedes Land glaubte, eine starre Anlehnung an bereits erprobte Doktrinen beibehalten zu müssen, um überleben zu können
Der Druck auf das Individuum, sich der Norm anzupassen, wurde härter und tückischer. Die Gefahren des Krieges waren vorüber. Die vielen Gesellschaften der Erde begannen allmählich in einen einzigen Superstaat zusammenzufließen. Aber der Zwang zur Anpassung wurde immer größer, anstatt nachzulassen.
Diese Notwendigkeit hatte ihren Ursprung in der ständig anwachsenden Bevölkerungszahl und in den vielen Problemen der Vereinheitlichung über nationale und ethnische Grenzen hinweg. Unterschiedliche Meinungen konnten äußerst gefährlich sein; zu viele Gruppen hatten jetzt schon Zugang zu den tödlichen Wasserstoffbomben. Unter diesen Umständen konnte ein abweichendes Benehmen nicht geduldet werden.
Endlich erreichte man den großen Zusammenschluß. Die Eroberung des Weltraums ging weiter, von der Mondrakete über den Planetenraumer zum Sternenschiff. Aber die Institutionen der Erde erstarrten immer mehr. Eine Zivilisation, die noch unbeweglicher war als die des europäischen Mittelalters, bestrafte jede Opposition gegen bestehende Gebräuche, Traditionen und Glaubensregeln. Die Verletzung der sozialen Grundregeln wurde als großes Verbrechen betrachtet, genauso schwer wie Mord oder Totschlag. Und genauso wurde es auch bestraft. Dazu wurden konsequent sämtliche antiquierten Einrichtungen wie Geheimpolizei, Staatspolizei, Spitzel und dergleichen benutzt.
Jedes mögliche Mittel wurde für das an Wichtigkeit alles übertreffende Ziel der Vereinheitlichung angewandt.
Für die Nonkonformisten gab es Omega.
Die Todesstrafe war schon lange vorher abgeschafft, aber man besaß weder genug Platz noch Mittel, um mit der ständig anwachsenden Verbrecherzahl fertig zu werden, die die Gefängnisse überall überforderte. Endlich entschlossen sich die Führer der Welt dazu, die Verbrecher auf eine abgeschiedene Gefangenenwelt zu deportieren, eine Methode, die die Franzosen in Guayana und Neu-Kaledonien und die Engländer in Australien und noch früher auch in Nordamerika angewandt hatten. Da es ganz unmöglich schien, Omega von der Erde aus zu regieren, machten die Behörden gar nicht erst den Versuch. Sie vergewisserten sich nur, daß keiner der Gefangenen entfliehen konnte.
Das war das Ende von Band 1. Eine Notiz am Schluß kündigte an, daß der zweite Band eine Studie über die zeitgenössische Erde enthalten würde. Er sollte den Titel »Der Zustand der Zivilisation« tragen. Dieser zweite Band befand sich nicht im Regal.
Barrent fragte den Bibliothekar danach und erhielt die Auskunft, daß er im Interesse der öffentlichen Sicherheit vernichtet worden war. Barrent verließ die Bibliothek und ging in den kleinen Park. Er ließ sich auf einer Bank nieder, starrte vor sich hin und dachte angestrengt nach. Er hatte erwartet, eine Erde zu finden, wie sie in dem Buch von Whittler beschrieben war. Er war auf einen Polizeistaat vorbereitet gewesen, auf strenge Sicherheitsmaßnahmen, eine unterdrückte Bevölkerung und eine ständig wachsende Atmosphäre von Unruhe. Aber das gehörte anscheinend der Vergangenheit an. Bis jetzt hatte er noch nicht einen einzigen Polizisten gesehen. Keine Sicherheitsmaßnahmen schienen getroffen zu sein, und die